Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Ich saß spätnachts mit dem Redakteur Daniel Windheuser und der Schriftstellerin Luise Boege im Keller eines Vororthauses in Hildesheim und las aus Tom Kummers „Blow Up“ vor. Wir trugen alle Schlafanzüge und versuchten, nicht dauernd versehentlich gegen den Bauernschrank zu bollern, der unser niedriges Verlies aus einer Ecke heraus mit dunkler Präsenz beherrschte und bei jeder Berührung einen Bauernschrank-Brummresonanzgong durch das papierdünn gebaute Vororthaus sandte, Kinder weckte und die ohnehin schon von einer undurchsichtigen Pünktlichkeitsmoral umgetriebene Vermieterin weiter erboste. Wir beklagten uns nicht. Wer in einen Vorort von Hildesheim zieht, weiß, mit welchen Kräften er sich einlässt.

Ich las lange und konzentriert, und erst als die Schriftstellerin und der Redakteur längst entschlummert schienen, löschte ich das Licht, bettete mich auf dem Rücken, lag wach und dachte über Tom Kummer nach und über den New Journalism und den Triumph des Geistes von Hildesheim.

Die Bilanz, als 2002 alles zu Ende ging, war wohl diese: Nett, aber eine elitäre Prestige-Übung ohne Auswirkung auf die Auflage, diese Posen interessieren die Menschen nicht — es gibt bekanntlich wirkliche Probleme. Das war die Stimmung in diesen Jahren überhaupt: Wir haben echte Probleme, Späße wie die Berliner Seiten oder das ZEIT-Magazin rechnen sich nicht in einer Welt, in der hinter jedem Busch ein Mudschaheddin mit einem Flugzeug lauert und, nach Jahren des Reformstaus die Hartz-Kommission endlich tagt, um die Kündigung des Mittelstandsfriedens der alten Bundesrepublik vorzubereiten. Die spielerischen Zeiten waren vorbei, es galt, sich in ein finsteres Jahrzehnt voller Armut und Anthrax hineinzuhalluzinieren.

Der alte Journalismus, der also das beschrieb, was die Menschen wirklich interessierte, verjüngte sich in der Folge mit dem Personal der schönen, unseriösen, wilden Neunziger, und heraus kam das neue Establishment, das wir heute lesen, mit Bastarden wie dem ZEIT-Leben oder dem SZ-Magazin heutiger Tage: Lifestyle gezähmt, Mode über Vierzig, viel Design, und gut geschrieben Süffisantes zum Schmunzeln beim Kaffee. Online tat sich auch eine Menge, es entwickelte sich im Netz die ganz eigenständige Kategorie des Laberjournalismus, der die Vorzüge der kummerschen Methode (kein Kontakt mit der schnöden Wirklichkeit) und die ethischen Ansprüche des seriösen Journalismus (keine Lügen) vereint: Vollkommen leere Texte, die zu irgendetwas auffordern: Mehr über Sex reden, hat irgendwas mit Kachelmann zu tun (Jana Hensel, Freitag), nicht im Internet bezahlen, hat irgendwas mit Hackern zu tun (Thomas Fischermann, ZEIT). Gewissermaßen die Demokratisierung des inspirations-, argumentations- und haltungsfreien Leitartikellaberns, das einst die fast exklusive Domäne des dünn angezogenen Herausgeberkaisers Josef Joffe war.

Dazu die Zombiethemen: Atomkraft, Feminismus, auf einem zwei Jahrzehnte alten Diskussionsstand, dankbar neue Aufhänger nutzend, an denen dann die im Alter sich merkwürdig ähnlich sehenden Gestalten von Öko-Institut Darmstadt und Emma höchst würdevoll zappeln und sich neue Gegner erzeugen dürfen. Moralisch muß es zugehen, wir haben (wir erinnern uns) echte Probleme, für den Spaß ist nach wie vor die Beilage zuständig, heute mit den cleveren Frückstücksbrettchen mit Magneten, die die Eierlöffel schweben lassen.

Es lässt sich nicht leugnen, daß der Zeitungslandschaft die Austreibung des halbseidenen, gierigen, nicht ganz konsistenten Geistes von Tom Kummer geschadet hat. Ich stelle mir das immer als epischen Kampf zwischen Tom Kummer und Ulf Poschardt vor, den Poschardt natürlich, Rauswurf oder nicht, Vanity-Fair-Pleite oder nicht, triumphal gewinnt: Der Kampf zwischen den Trickstern und den Karrieristen geht, auf Zeit, immer an die Karrieristen.

Die Große Frage war und ist ja: Wie ist das mit der Ironie? Wo ist die Ernstgrenze, und wie behandelt man das Ernste; anders gefragt, hat man, wenn man schummelt und faked bei belanglosen Themen, noch eine Autorität beim Besprechen der Themen von Belang? — Die ängstliche, geschockte, erst vor der eigenen Wirkmacht und dann dem New Yorker Einbruch des Realen erschrockene Antwort in den frühen 2000ern war: Nein, besser den Ironieversuch zurückrollen, nur den Autoritätsbestand nicht gefährden.

Heute müsste man die Frage aber doch neu stellen: Die nüchternen Fakten lösen sich langsam vom Journalismus, journalistische Produkte, gerade die erfolgreichen überregionalen, bewerten und kommentieren ohnehin immer mehr. Bleibt es nun bei diesem moralisch hinterlegten Labern? Wir, die 2002 kaum über zwanzig waren, zu jung fast zum Lesen, sicherlich zu jung zum Schreiben, kriegen in unserem Erwachsenenalter nur Frühstücksbrettchen und eine Diskussion der schäbigen Erörterung, ob einem Wetteransager eine Vergewaltigung zuzutrauen sei?

Oder lässt sich die Welt, irgendwann, doch wieder herausschreiben aus dem drögen, biestigen Sumpf der Ungegenwart?

Der dröhnenwollende Bauernschrank belauerte uns. — Good night, John-boy, sagte ich probeweise. — Gute Nacht, Jim-bob, antwortete es aus dem Dunkel.

Link | 2. Juni 2011, 20 Uhr 44 | Kommentare (1)


Ein Kommentar


Hier jedenfalls wird er immer sein und bleiben, der Ausgangspunkt dieser großen und wunderschönen Welle, auf deren Krone wir alle ritten:

[ http://bit.ly/k9CSjP ]

Wenn man nun, wenige Jahre später, auf einen Berg bei Berlin steigt und nach Südwesten blickt, dann kann man, so man denn die richtige Augen hat, fast die Hochwassermarke sehen – den Ort, an dem die Welle endlich brach und zurückrollte.

Kommentar by zak | 13:07