Vigilien

is there any any? nowhere known some?

In Stuttgart hatte ich, von Berkheim kommend in einer beruflichen Sache, eine Stunde zu verbringen, und der Bahnhof in seinem leeren Übergangszustand bot nichts als Zug und Kälte. Ich wanderte also hinaus und in die Stadt hinein, die Königstraße entlang zum Schloßplatz hin. Auf meinem Weg fand ich den Würth Family Store, ein geräumiges Werkzeuggeschäft, wo Zangen präsentiert wurden wie Sportgeräte: für Tätige im Wohlstand. Ich fand Rudolf Kautz, der auch in der Kälte seinen Tisch aufgebaut hatte und bereit war, siumultan gegen zwei Passanten Schach zu spielen. Ich war in einer Stadt, in der ein Schachprofi auf der Straße Gegner fand und auch bei -2° hoffen durfte. Ich fand eine Frau auf einer Treppenstufe, die gestürzt war und sich ein blutiges Tuch an die Schläfe hielt. Zwei Polizisten dirigierten einen Krankenwagen, und ob die zitternde Frau ein Jota Geborgenheit spüren würde in wenigen Augenblicken fragte ich mich, stehend im Mantel, den Platz überblickend. Ich fand ein Schloß und entdeckte eine Gewissheit wieder, an die ich viele Jahre nicht gedacht hatte: Daß die Schlösser gerade in den Republiken, in der Überwindung ihrer früheren Zwecke, ihre Bestimmung gefunden hatten, als Nachweis des Durchgangs der Macht durch einen Zustand der Verfeinerung zur Souveränität, Bedingung ihrer Rückgabe an die Massen, unverzichtbare umgestoßene Leitern. Ich wandte mich, als ich mich darüber ausreichend gewundert und auch sehr zu frieren begonnen hatte, wieder dem Bahnhof zu, mit dem Turm in der Flucht der Straße, und erinnerte mich, wie ich als Schüler zum ersten mal hier gewesen war und den besternten Turm dort stehen gesehen hatte: Auf dem Rückweg vom Landtag, wo mein Geschichtslehrer, vor einem Plenum, in dem nur wir, seine Schüler, gesessen hatten, zum Pult gegangen und eine kleine Rede gehalten hatte zu unserem amüsierten Befremden, mit den aus dem Fernsehen vertrauten Gesten: Zurechtrücken des Mikrofons, eine Hand am Pult, eine Hand frei. Es war den Empfindsameren unter uns gleich klar gewesen, daß er das nicht für uns, sondern für sich selbst getan haben musste. Er hatte, verstohlen sich umsehend, ob ihn einer hindern würde im Sinne der Würde des Hauses, die Chance genutzt auf seine Rede vor dem Landtag, weil es ehrlich das Größte gewesen sein muß für ihn: Daß man sich zum Streiten versammelte und es ritualisiert hatte und redete und sich zum Denken zwang. Sehr verfroren setzte ich mich dann in einen Sitz des ICE 576 nach Frankfurt und nahm meine rastlose Rotation wieder auf durch die Städte und dachte an die Sommer, in denen man eine Stunde auf dem Bahnsteig auf dem Boden sitzen kann mit einer Zeitschrift und einer Cola, an einen stählernen Mast gelehnt, und ein heißer Wind geht und Züge fahren durch mit Kesselwagen und Gekreisch.

Link | 25. Januar 2020, 23 Uhr 17