Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Eine Universitätsstadt im Sommer: Der Fluß gurgelt, die Weiden kühlen ihre Handgelenke darin, und zwischen den Parkbäumen sitzen sie in Gruppen und haben sich ein Fach ausgesucht.

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Man weiß, daß er auf einem Bauernhof groß geworden ist, und es ist zumindest nicht auszuschließen, daß dort wirklich Landwirtschaft betrieben worden ist. Er macht Abitur, studiert, zeichnet sich aus auf einem abwegigen Spezialgebiet und lebt ein Wissenschaftlerleben. Eine internationale Krise, die sein Fachgebiet betrifft, tritt ein. Er wird gefragt, macht einen Schritt nach vorn, und kann reden, selbstverständlich, genau und unerschrocken. Der Bundesminister, in dessen Ressort die Krise fällt, benutzt später die Formulierung von der „lebensklugen Mitte der Gesellschaft“: ungefähr für das Publikum dieses Forschers, wie man annehmen darf.

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Die politische Krise von 1977: Die Offensive 77 einer bürgerlichen Terrororganisation, die von der Monstrosität des geschichtlich noch sehr nahen NS-Staats und der fast vollkommenen Kulturvernichtung, die er zu verantworten hat, so besessen ist, daß sie die westdeutsche Republik nicht anschauen kann, ohne diesen NS-Staat in ihr zu erkennen.

Nur wenige Jahre später dreht ein Filmemacher eine Reihe mit dem Titel „Heimat“. Er gehört zu einem Freundeskreis von ausnehmend klugen visuellen Denkern. Über die langen Jahre ihrer Karrieren trifft man sie in Ulm, Hollywood, in Manhattan, im Nachprogramm von RTL oder als Betreiber von Kinos in schwäbischen Kleinstädten. Sie erzählen, immer im Modus großer Aufrichtigkeit und mit viel Aufmerksamkeit für die Wirklichkeit, aus einer dunklen, zerbrechlichen Welt, in der der größte Schrecken immer eine Möglichkeit in unseren Seelen ist, ganz nah bei unseren wertvollsten Gefühlen.

Die „Heimat“-Filme, sehr langsam, sehr poetisch, voller ungefälliger, wunderschöner Lieder und gutem Deutsch, in Dialekt und Hochsprache, wird viele Millionen mal gesehen, wieder und wieder. Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk versteht man nicht ganz, wie das sein kann: Daß das ein Publikum hat, und wie es so groß sein kann. Der Filmemacher wird gefragt: Für wen machen Sie das? Und er gibt eine optimistische Antwort, spricht von einer kulturtragenden Intelligenz und der Möglichkeit eines unverdorbenen Verhältnisses zu sich und der Welt.

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Ein jüdischer Literaturwissenschaftler, ein Großbürgersohn, Lehrer von Schriftstellern und Feuilletongrößen, Gesprächspartner sozialdemokratischer West-Kanzler und französischer Surrealisten, der 1945 nach Deutschland zurückkehrt und sich zunächst die DDR aussucht, sagt 1994 in einem Interview:

In Ländern wie Frankreich, Spanien, England, Italien gibt es eine weit in das Kleinbürgertum, bis in die gehobene Arbeiterschaft hineinreichende Kultur der Sprache, des beau langage, der Art wie man sich verständigt. In keinem dieser Länder wäre ein Mann wie der aus Oberösterreich mit seinem sprachlichen Geblubber ernstgenommen worden.

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Ein anderer schreibender Literaturwissenschaftler, im Krieg im Allgäu geboren, erträgt das Fortblubbern der Sprache des Mannes aus Oberösterreich nicht und flieht nach England. Später macht er Ausflüge zurück über den Ärmelkanal und wandert durch einen dunklen Kontinent, die Ruinenlandschaft der europäischen Hochkultur. Er beschreibt diese Reisen in einem Deutsch, das älter und wärmer ist als das Geblubber, als diese neue Sprache der Gewalt, die nie wieder verschwunden ist und die wir alle immer noch sprechen und schreiben. Kurz vor seinem Tod spricht er in einer Radiosendung aus Los Angeles über seine Arbeit, und der Gastgeber bemerkt:

I’ve been very amused,
because critics or writers about your work in America
seem to be bewildered by its tone
and I don’t in fact find its tone bewildering
I think they are unfamiliar with it
because it’s tenderness

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Die Bildungsexpansion ist kein Prozess des individuellen Aufstiegs und der verbesserten Chancen für jeden, sondern einer der Befestigung von Bildungsfortschritt zwischen den Generationen. Einige aus bücherlosen Haushalten sitzen also manchmal doch an den gurgelnden Flüssen der Universitätsstädte im Gras, lernen wieder sprechen und lesen, finden ihr Deutsch und ihre Verantwortung für die, die es noch nicht gefunden haben; lernen vielleicht auch die Sprache der Gewalt erkennen. Und ihre Kinder knüpfen dann an diesen Fortschritt fast zwangsläufig an: So werden es mehr. Das ist die optimistische Geschichte zu den Daten.

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Die Erwartung, daß Bildung mit Herrschaft einhergehen solle, allerdings, wird enttäuscht. Die meisten von uns müssen arbeiten, als hätten wir das Denken nie gelernt. Daß wir ums Herrschen betrogen werden, ertragen wir kaum, und der Gewalt in der Sprache begegnen wir mit Gewalt. Das ist die pessimistische Geschichte.

Link | 4. Juli 2020, 20 Uhr 48