Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Das Deckenlicht bleibt ausgeschaltet, die Wartehalle des Bahnhofs von Böbingen liegt im Halbdunkel. Die Wartehalle des Bahnhofs von Böbingen ist fünf mal fünf Meter groß. Straßen- und Bahnsteigseite sind bodentief verglast. Eine Wand: Sichtbeton mit Holzmaserung, davor felsenfest eine durchgehende Bank aus schwarzem Stahl und unzerkratztem Tropenholz. Der Bank gegenüber: die Wand mit dem Fahrkartenschalter, die einzige ornamentale Wand des Raums: drei abgerundete Rechtecke aus geschnittenem und poliertem Kieskonglomerat-Beton, orangene und braune Flächen aus opakem Glas, in einem der runden Rechtecke: der Schalter selbst.

Der Böbinger Fahrkartenschalter ist seit dem 1.1.2016 geschlossen. Das steht auf einem Stück Papier in einer Klarsichtfolie, das dort seit dem 31.12.2015 hängt, vor einem gezogenen Vorhang mit großen Abstrakta in braun und orange darauf: Originalausstattung ca. 1983. Die quadratische Uhr im Warteraum des Bahnhofs von Böbingen geht falsch, sie zeigt vierzehn Minuten nach vier, dabei ist es kurz vor acht Uhr Abends: Das einzige Zeichen von Vernachlässigung, das ich erkennen kann.

Ich bin allein im wohnzimmergroßen, verlassenen, von der Bahn aufgegebenen und kein bisschen verwahrlosten Wartesaal des kleinen Bahnhofs von Böbingen. Ich fühle mich sicher und zu Hause. Durch die Glasfront zur Straßenseite schaue ich einem Bauern beim Obstabladen zu. Der schwäbische Brutalismus, eine besonders bürgerliche, ernsthafte und schöne Ausprägung der Formen- und Farbsprache der späten Moderne, beruhigt und behütet auch in der Miniaturversion des Bahnhofs von Böbingen, in dessen dunklem Nachleben ich auf meine Regionalbahn warte.

Link | 24. September 2018, 23 Uhr 13


Weirdes Wandern: Zwischen dem zweiten und dritten Stein könne man durchfahren, sagte Wilfried. Wir bargen, schon nah dran an der in den Atlantik hinausragenden Perlenreihe. Unter Motor verfehlten wir die Stelle zunächst und mussten einen zweiten Anlauf nehmen, dann schlüpften wir durch. Auf den Klippen im Osten kamen in Sicht: ein Doppelkreuz, zwei Westwall-Artilleriebunker, ein Feuerleitstand und drei große alte Ferienhäuser mit vernagelten Fenstern.

Auf der Reede von Camaret dann lag schon ein Patroillenboot der Küstenwache, und es waren Hubschrauber in der Luft. Der Hafen wurde gesperrt, kaum daß wir festgemacht hatten: der Präsident der Republik würde das Städtchen besuchen tags darauf, ein Tag Zwangspause für uns.

Ich stieg also von der Stadtseite zu den Klippen hinauf, vorbei an den Steinreihen von Lagatjar und durch die Ruine der in den letzten Kriegstagen bombardierten strangen Abtei von Saint-Pol-Roux. Tief unten die Bucht; um mich Pfade zwischen niederen Sträuchern, Geröll, MG-Nestern und aus Flak-Fundamenten ragenden armdicken Schrauben. Sonnenflirren auf dem Wasser, Schmetterlinge und Hummeln am Beton. In einem glasklaren sonnigfrischen Lothar-Günther-Buchheim-Moment setzte ich mich auf einen Stein am Feuerleitstand und sprach Ideen für eine Erzählung, die „Die Erdkundestunde“ heißen würde, in mein Diktiergerät. (Die Aufnahme ist kaum zu verstehen hinter den Windstörungen, aber gut genug.)

Die vernagelten Häuser auf der Klippe sind vor nicht allzulanger Zeit gesichert worden. Nicht unmittelbar bewohnbar möglicherweise, aber mit neuen Dächern versehen und dichten Fenstern. Natürlich wäre die „Erdkundestunde“ nur dort, unter Zuhilfenahme etwa eines Jahres Lebenszeit, auch nur für ein Scheitern in Erwägung zu ziehen.

Am nächsten Morgen, Präsidenten-Leviathanspuk vorbei, brachen wir auf nach Nordwesten, Pointe Saint-Mathieu, die Inseln, und dann in eine unruhige Nacht hinein, unter strenger Beobachtung von Ouessant traffic, AIS-Slalom zwischen Schiffen mit Bestimmungshäfen Rotterdam und Hamburg; die helle Flamme der Verliebtheit in die „Erdkundestunde“ langsam verblassend in Müdigkeit und Nervosität.

Link | 2. September 2018, 17 Uhr 14