Selbstbild-Grundkonfiguration für Gen X: Wir durchschauen die Phoniness der kranken traurigen Welt, wir wissen, daß das System unseren Widerstand co-opten wird, aber wir finden Wege, unseren Stolz zu wahren: Wir sind keine Sellouts, und wir finden Sellouts immer noch traurig.
Mit „ja nichts ist okay“ und dem Tod Polleschs ist die Unhaltbarkeit dieser Disposition offenbar geworden.
Das sensationell lustige nervös-souveräne Distanzhalten, das seine Texte ausgemacht hat und gewissermaßen die höchste und schlauste Verfeinerung des Gen-X-Außenvorseins war, ist unmöglich geworden in einer Welt, in der mächtigere Gegner auftauchen als das System. Polleschs letztes Stück beklagt das, und das ist schwer zu ertragen, weil bequem und falsch.
Das System war — jetzt, im Nachhinein, sieht man es — zwar ein formidabler Gegner, weil es immer gewonnen hat, es meinte es aber, eindeutig, gut mit uns. Die neuen Gegner meinen es nicht gut. Sie wollen uns nicht dazu kriegen, unsere Seele an einen Job zu verkaufen, der zwar den Künstler in uns tötet, aber unsere Kinder ernährt: Sie wollen ganz unmetaphorisch wirklich töten. Die neuen Gegner haben Berlin noch nicht erreicht, und drum spricht der alte Volksbühnentext sich noch eine Weile weiter als wäre nichts: als sei die Unmöglichkeit, sich noch zu unterhalten ohne Aggression ein mediales Problem der Kommunikationsausrüstung der Sprechenden und nicht eins davon, daß in den neuen WG-Diskussionen über Politik eine Seite eben die ghulische Seite wählt und sagt: Die hatten ein Recht, diesen Krieg anzufangen, der wahre Agressor ist immer der Westen, dem Westen mit Blut, echter Mordlust und Lügen entgegenzutreten ist legitim, und was die Ghule eben noch so alles sagen.
Gen-Xer gehören nicht dazu: Das Nichtdazugehören ist unsere zweite Natur. Wir gehören nicht zu jenen und nicht zu diesen. Wir bestimmen unsere Außengrenzen über die Außengrenzen der Falschdenker: Wir weichen zurück dorthin, wo die anderen nicht hindenken können. Manche von uns waren bis heute sehr gut darin, aktiv Außenseiter zu bleiben. Und jetzt macht wirkliche Gewalt die Räume dicht, die die angebliche Gewalt des Indie-Kapitals eben doch gelassen hatte: Wir müssen uns, endlich, bekennen, sagen wer wir sind und wo wir dazugehören.
Kein päpstlicher Aufruf zur friedlichen Kommunikation erlöst uns von dieser Pflicht: Ich bin spalanzani und wer bist Du? ist die falsche Frage, denn Du hast dich längst erklärt (ich hab nur Deine Manifeste nicht gelesen, weil ich sie nicht wahrhaben wollte) und Du hast an mir nur Interesse, weil Du meine Schwächen kennen musst. Die Kommunikation, die Du von mir willst, ist die Kapitulation.
Die richtige Frage ist Ich bin spalanzani und wo sind meine Leute? — denn wer immer meine Leute sind, ich hatte gelernt sie zu übersehen und beiläufig vor den Kopf zu stoßen wie wir alle, die geheimen Aristokraten des Grunge. Und jetzt sind wir ratlos und haben nie gelernt dazuzugehören, und auf unserer eigenen Seite wirklich zu stehen.
Auf Höhe der ruhelosen Birkenspitzen einschweben in die Ebene, die peitschenden Bäume und den Wind und die Sonne und die Luft teilen wie Quecksilberwasser, grauglänzende Blattunterseiten, die blau-wolkenen Riffelspiegel der endlosen flachen Wasser in den Auen, unter denen irgendwo sicher auch der Fluß noch fließt, eilige Himmel oben und unten, und rebellisches Haar, Birkenwipfel kämmen mit fünf Fingern, eine Spirale & kalte Gischt.
Die Flamme blakt im dunklen Raum, erhellt die Blumen und Schlingen an den Wänden und die Stoffe, die Sessel im Schatten, die Karaffe im Licht, die Karaffe im Dunkel, das Fauteuil im Licht. Die Flamme hat drei Farben, Orange, Blau-Transparent, Weiß. In der Flamme ist ein Mann, der aufrecht steht, in einem weißen Hemd, der eine Hose trägt mit weiten Hosenbeinen, der stabil mit beiden Füßen auf dem Boden der Nacht steht, als hätte er einen Schritt unterbrochen und dann stehen bleiben müssen, kräftig und reglos. Der Mann ist reglos. Er lässt einen Arm lässig hängen, die Hand halb geschlossen, ohne Geste. Den anderen Arm hat er halb erhoben, aufzeigend mit dem Finger gerade über der Höhe der eigenen Augen hinter den schimmernden Gläsern seiner runden Brille. Der Mann steht reglos in dieser Pose, erhoben den Zeigefinger im weiten runden Dunkel. Und auf dem Finger, gerade eine Kuppe über der Kuppe, brennt eine Flamme in Orange, Blau-Transparent und Weiß. Und in der Flamme ist ein Mann, der aufrecht steht.
Georgs Schwimmbad steht in einer Reihe mit anderen Besinnungs- und Kraftorten in meiner Erinnerung, die mit einigem Bemühen zwar erreichbar, aber doch nicht alltäglich zugänglich sind: Der Aussichtsplatz auf dem Westwallbunker bei Kerbonn, Ouessant erahnbar in der Ferne, die Kostümabteilung des Germanischen Nationalmuseums, die Lobby des Grand Hyatt in Seoul. Eingeschränkt ist die Erreichbarkeit von Georgs Schimmbad vor allem, weil es sich nicht schickt, ein Schwimmbad zu besuchen, ohne dem Freund, dem es gehört, Aufmerksamkeit mitzubringen. Georg allerdings kennt meine Vorliebe für diesen Ort in seinem Haus, und nach seinen Begrüßungen, die eher meine selbstverständliche Anwesenheit anerkennen als einen Überschwang von Freude auszudrücken — der Erzherzog! sagt er, die neu eingetretene Tatsache beschreibend, wenn die Tür sich öffnet — erlaubt er mir gern eine ungestörte Stunde im Schwimmbad, bevor er mich, selbst kein großer Schwimmer und selten anzutreffen in dieser großen Anbauhalle auf der Parkseite seines Hauses, im Garten jenseits der großen Scheiben mit einem Getränk erwartet. Diese Halle aus lasiertem Schichtholz und Glas, mit ihrer Decke aus nachgedunkelten Fichtenbrettern zwischen schwarzen Trägerbalken, mit ihren ungezählten Kugellampen und verschiebbaren Glasfassaden, die im Winter auf eine schneebedeckte Kälte hinausgehen und im Sommer auf die sich wiegende Weite, die hinter Georgs Haus aus seinem Garten ohne Zaun und Hecke in das Hinterland Hessens hineinreicht. Es brummen im Sommer durch die aufgeschobenen Türen die Insekte aus dem Garten herein, und die Geräuschkulisse draußen wird besorgt von den Stimmen der Singvögel und den Knister- und Knackgeräuschen, die entstehen bei ihrer Nahrungssuche in den Rinden, beim Nestbau und beim Verjagen der ruhelos die Baumstämme hinauf- und hinablaufenden Eichhörnchen. Im Winter hingegen herrscht vollkommene Stille im Bad, das Summen der Entfeuchtungstechnik und das unhörbare Geräusch des golden aus Kugeln und Strahlern ins Wasser und auf die warme Keramik herabfallenden Lichts betten die Geräusche des beim Schwimmen bewegten Wassers eher ein in die Winterstille als sie zu stören. Manchmal abends, jedoch nur im Spätherbst und Winter, macht Georg dann, von seinem Platz an der Scheibe in seinen Wohnräumen aus wohl, Edward Ka-Spel oder eine obskure zischende Konkretheit aus der Neuen Musik an, die dann aus den Lautsprechern an der Decke mein Alleinsein im Bad begleitet bis ich heraussteige aus dem Wasser und mich im Halbdunkel in ein großes braunes Frotteetuch wickle. Von den Sommertagen ist mir einer in Erinnerung, an dem wir dann im Schatten auf Georgs Liegestühlen beisammensaßen, er in seiner Gärtnerkluft noch, ich mit einem Baumwollhemd auf der nassen Haut, und meine jüngeren Texte besprachen und die Richtung, die sie zu nehmen schienen für ihn. Er anerkenne, sagte Georg damals, durchaus die fortgesetzte Konzentration auf Orte und Stimmungen, und doch verstünde er meine Zweifel an der Werktauglichkeit, gewissermaßen der Werktauglichkeit, sagte er, solcher unverbundener Fragmente und Kleinformen: Es sei ja kaum von der Hand zu weisen, daß sie auch leichter zu machen seien, am Wochenende, immer so weiter ohne neue Anstrengungen. Und liefere die Entscheidung für die Plotfreiheit nicht zugleich eine bequeme Entschuldigung dafür, als Barde gewissermaßen nicht ernst machen zu müssen und sich um den Erwerb eines Publikums und die damit verbundenen Einschränkungen der Freiheiten weiterhin zu drücken? Andererseits sei die Plotmüdigkeit in unser beider Lesepraxis weiterhin stark und nicht selbstgewählt, schien uns, und wie viel langweiliger sind motivierte und anmaßend autoritär-durchschaute Figuren als die enigmatischen, die zum Reich der unerklärlichten Tatsachen gehören, wie die Erscheinungen des Wetters oder der Erdgeschichte, die wie diese nur ihre Oberflächen exponieren und sich mitteilen auf diesen Oberflächen, aber ein Gelesenwerden als schöne Gegenstände eher ermutigen als eins als psychische Mechanismen nach dem dummen und falschen Modell, das man vom eigenen Geistesuhrwerk hat und das ja doch vor allem aus kaum kohärenten Rechtfertigungen besteht, die wir uns selbst zurechtlegen nach dem affektiven Herumstolpern in der Welt. Die Welt der eigenen Gefühle hingegen erschiene ihm, so Georg an diesem Nachmittag im Schatten der Bäume vor seinem Schwimmbad, in dem das Wasser gleißende Lichtwaben an die dunkle Decke warf, als eine Welt der reinen Tatsachen: ebensowenig zu ignorieren wie äußere Zwänge und nur ebenso langsam und mühsam dem eigenen Wirken zugänglich, einer eigenen Ökonomie folgend, einer Ökonomie der Liebenswürdigkeit, wenn man genau sei, da die Gefühle gelernt und abgeschaut werden könnten nur von uns zugeneigten Anderen. Ich war sehr sicher daß er Recht hatte damit und schwieg einen Moment in Gedanken an meine eigene Schule der Gefühle, und überhörte fast seinen Schluß: Daß also eine Literatur, die aus einem Anspruch auf allgemeine Gültigkeit heraus beim Teilbaren beginne, bei den Ideen und großen Geschichten und welche das individuelle Empfinden, die Zufälle der Stimmungen und Gefühle, als Dekoration zur leichteren Verdaulichkeit behandle, das Eigentliche mit dem Beiwerk gerade verwechsle: Nicht die für den Leser wiedererkennbare, präzise Erwähnung von Moos auf Altstadtpflasterfächern und Beton, und all die Gefühle von Heimat und Kultur, die sich damit verbänden, mache eine Geschichte plastisch, die das eigentliche sei, behauptete Georg und machte eine Geste über das Pflaster seiner Schwimmbadterrasse hinweg, sondern eine Geschichte sei andersherum bestenfalls ein Gerüst nur für das Aufrufen solcher eigentlicher konkreter Wahrheiten der Empfindungswelt. Auch dies schien plausibel angesichts des Repertoires an ganz fremden Welten der Empfindung, die uns gerade als Lesern gut entwickelter Romanliteraturen ja vertraut waren. Das viktorianische England fühlen wir nach, so stark vermittelt sich seine Eigenheit: Die euphorische und verzweifelte Nostalgie am unwiederbringlichen Ende des Zeitalters der Unikate. Es seien ja nicht wirklich die Geschichten von Armut und Ungerechtigkeiten, die uns fesselten an dieser Literatur, sondern die Atmosphäre aus irren und verfrühten Superlativen in schmiedeeiserner Glasarchitektur, experimenteller elektrischer Infrastruktur und beginnendem Bewusstsein für das Ende der Daseinsart von Gegenständen und Leuten, die es nur einmal gibt, die Vorstellung von Emporien und Kuriositätenkabinetten und Museen und geisterhaften Kräften, die sich dem neuen Zugriff der Menschen auf die Welt noch eine Weile zu entziehen vermögen, bis die Kabinette der Kuriositäten und ihre Besucher selbst Kuriositäten werden und langsam verschwinden und mit immer höherem Aufwand noch im kulturellen Bewusstsein gehalten werden können, ganz genauso wie etwa die Welt der lateinischen Sprache, und alles was existiert hat in ihr, nun langsam ersetzt wird durch einen neuen Kanon im Lauf unserer eigenen Lebenszeit. Eine Bö fuhr in die beiden riesenhaften Nordmanntannen, die im Baujahr des Hauses gepflanzt worden sein mussten in der ersten Parkanlage dort oben. Die mächtigen Stämme zitterten, und das Geräusch des Windes in den Nadeln machte für einen Moment jedes Gespräch unmöglich. Ich zog einen Wollpullover über, und wir schauten beide, Georg und ich, über dem Flachdach des Schwimmbads nach Zeichen eines Sommergewitters, das einer so kühlen Bö folgen musste nach den alten Regeln der Sommer in diesen Landstrichen. Es scheine doch, sagte ich, einen Liegestuhl unter das Dach des Freisitzes räumend, zu Georg, daß wir uns, nicht nur was den fast völlig schon abgeschlossenen Prozess des Untergangs der Lateinischen Sprache anginge, in gerade einem solchen Übergang befänden wie dem der viktorianischen Literatur, als die Gegenstände aufhörten Einzelstücke zu sein: dem der Übergabe des Sprechens an die künstlichen Intelligenzen und sprachproduzierenden Organisationsmaschinen, die erst unsere routinierten Sprechakte übernommen hatten und jetzt für uns weiterbrabbeln konnten wie wir gebrabbelt hatten zueinander, zuvor, und die inzwischen wie wir ab und zu einen Sprung machten aus Versehen, der als neuer Gedanke das Brabbeln unterbrach und uns weiterbrachte ohne daß es einen Plan zu dieser Innovation gegeben hätte. Georg — freilich!, sollte das heißen — wies, still, eine Hand ausgestreckt, auf seine Bäume hin, hob die beiden dunklen Tannen auf in meiner Perspektive in seiner Handfläche. Die radikale Diesseitigkeit in diesem Garten, die wir beide wohl von Ylvie gelernt hatten und über Ylvie von einer älteren Tradition, verbot uns jede Verzweiflung über dieses Irrelevantwerden unseres Sprechens, dieses Sich-Verfahrenhabens auf einem toten Seitenarm des Geistesflusses, wo es still geworden war und nur Enten riefen und manchmal ein Bieberrücken sich glucksend bog und wieder tauchte neben dem Dollbord des nun ziellos treibenden Boots. Georg hatte es als erster bemerkt von uns, damals, und ausgesprochen und den konsequentesten Schluss in Form seines Gartendaseins gezogen: Daß das Ende des Verschwindenkönnens, mit dem Auftauchen endloser Speicherbarkeit von allem, einen besonderen Moment markierte, daß die ideelle Welt der zwei Generationen vor diesem Moment für lange, lange Zeit das Koordinaten- und Mythensystem für alles sein würde, daß die Welt verdammt war zu einem ewigen Cosplay das 20. Jahrhunderts also, mit Kommunisten und Humanisten und Faschisten und ihrem immer bedeutungsloser werdenden Reenactment von „Menschheit“, während die künstlichen Intelligenzen und Abstrakta die Fortentwicklung des Denkens übernahmen lange bevor sie das Sprechen gelernt hatten, und freilich erst recht seit sie es konnten. Diese untoten Machtphantasien des 20. Jahrhunderts, daß „man“, daß eine mythische alle umfassende Menschheit, die es nie gegeben hatte und nicht geben konnte, „etwas tun könne“, die Natur verbessern oder doch mindestens unseren Anteil daran, der Natur die Grausamkeit austreiben oder doch zumindest dem Menschengemachten, als gäbe es ein Außen-zur-Natur zu bewohnen, diese Phantasmen gemeinsamer Interessen und kollektiven Handelns von Milliarden, die sich kaum verständigen konnten, lebten weiter in den bedeutungslosen Diskursschleifen der Leute, phantomatischer Nachhall der Moderne, während Georg in den Tiefen seiner Gebüschlandschaften beim Licht einer Laterne ein Käsebrot verzehrte, die Schere im niedergetretenen Gras, und während Ylvie zu Fuß irgendwo im Taunus oder im Hunsrück, Kletten an den Knöcheln, das Land durchmaß, beide Teil der Natur, Teil des Geschehens und nicht der Messias, vom Wind über die Gegenwart getrieben, das Richtige tuend ohne Illusion von Gestaltung, manchmal vielleicht angestemmt für einen Moment gegen die Kraft des Windes, um sich zuzuwenden.
Zwei Stimmungen:
Es ist schon dunkel draußen und die niedrige Decke der Stube wird von drei Lichtquellen gestreift: Einem Leuchter in der Mitte des Raumes, von dem kerzenförmige Birnen in blaugrünen Glastulpen schwache wellige Lichtfelder auf die Rauhfaser entsenden, dem Flackern eines Farbfernsehers, und dem viel wärmeren Licht aus dem Flur, das durch einen Türspalt fällt und dabei nur ein spitzes Dreieck an die Decke zeichnet, dafür aber auch die Vorhänge am Fenster zur Straße wie von außen her erhellt. Es ist sehr warm. Die Wärme kommt von einem frei im Raum stehenden kleinen Ölofen, kaum größer als ein Nachttisch, der seinen Brennstoff über eine Leitung aus zwei Fässern im Keller bezieht und rumpelnd, gelegentlich fauchend, verbrennt. Von den fernen Ecken der Stube her drängt sich eine klamme alte Kälte in die Hitze des Ofens; und es ist als sei jetzt, im späten Herbst, das lange Ende des Raums nicht zu erreichen mit Licht und Wärme und also nicht eigentlich mehr Teil des Hauses. Es ist still im Raum, der Fernseher zeigt stumm eine Werbung für entkoffeeinierten Kaffee, vom Fauchen des Ölofens abgesehen still. Über dem Fernseher hängt in der Ecke, weit nach vorn in den Raum hineingeneigt, ein Kreuz, an ihm der Heiland mit einer hölzernen Dornenkrone. Unter den Tapeten sind die Wände nicht gerade.
Es fällt Regen, seit Stunden. Gräser, Sträucher und Bäume schütteln in gelegentlichen Böen Wasser heraus aus sich, und saugen es frisch wieder ein aus dem schwarzen Boden, über den kleine Flüsse hinfließen. Der Regen fällt außer auf die Bäume auch auf einen grünen Kran und seinen narbigen Betonsockel. Viele Sommer haben den grünen Lack matt und hell gebrannt, und um die großen Nieten steht das Wasser auf rostigen Stellen. Rinnsaale von kaltem Wasser stürzen am Kran entlang, über den kalten, nassen, rostigen Stahl. Es stellen sich Fragen: Vor vielen Jahren ist Eisenerz in einem Bergwerk abgtragen worden, und es wurde Stahl daraus gekocht, es wurden Platten daraus gewalzt, es wurde geschweißt und genietet und lackiert, der Kran wurde auf einen gegossenen Sockel gestellt und hat Steine verladen auf Lastwagen oder Schrott. Hat es sich gelohnt? Lohnt es sich? Der kalte Regen rinnt über den Stahl und kühlt den Kran. Er klebt vor Nässe und Kälte, wenn man ihn anfasst. (Bewegt er sich im Sommer, wenn er in der Gluthitze steht und einen harten Schatten wirft, derselbe Kran, derselbe rostige Kranz?)
Die immer ultra lässigen Fahnenschwinger marschierten über den Biberacher Marktplatz ohne auch nur Notiz zu nehmen vom zahlreich auf den Tribünen versammelten, Eis essenden und auf inoffizielle kleine Vorführungen hoffenden Publikum. Es war Schützenfest in Biberach, das Kinder- und Heimatfest, das nicht vom Schießen handelt, dankenswerterweise, und statt dessen fünfhundert Jahre Krieg und Totschlag in Europa als bunte Uniformen- und Marschtrommelfolklore vollkommen entübelt, eine Art Rammstein-Performance der Konfessionskriege. Die Fahnenschwinger sind die Elite unter den dutzenden uniformierten Trommelgruppen, die eine Woche lang kreuz und quer durch die Altstadt ziehen: Die Kombination aus Landsknechtrommeln und Paradesnares beeindruckt schon aus der Ferne, die Fahnen sehen großartig aus und erzwingen eine imposant stoische Konzentration und attraktive Weitverteiltheit in der Marschordung. Wie schwierig die Biberacher Trommeltruppen-Semiotik zwischen Fahnenschwingern und Fegern (die ich am Abend vorher bei der Housewarming-Party meines Freunds Uwe mit einem einzigen Platsch in den Pool hatte springen sehen dürfen) zu erklären ist, fällt dem Biberacher erst auf, wenn er Gäste von auswärts mitbringt: Die Feger sind eine großartig merkwürdige Innovation in einem Kontext, in dem die Fahnenschwinger normal und gewissermaßen das Establishment sind. Jedenfalls brachen wir nach dem ungerührt Fahnen werfenden Durchmarsch der Fahnenschwinger auf, um über die Treppen auf den Gigelberg zu steigen, wo der Jahrmarktteil des Biberacher Schützenfests stattfindet. Unter anderem weil das Riesenrad das einzige für einen Gentleman denkbare Fahrgeschäft ist folgten wenig später einige Runden in der gewaltigen, thematisch Paris-basierten, schon etwas älteren Maschine. Von unserer Gondel dort oben, beim Blick auf die Stadt schließlich, fiel mir ein von mir seit Dekaden vergessenes Biberacher Haus wieder in die Augen mit seinem roten Spiraldach: Das Wellerhaus oder Schneckenhaus, an dem ich in meiner frühend Jugend oft vorbeigerollt war an regnerischen schläfrigen Herbstsamstagen, auf dem Rücksitz im Auto meines Vaters, der sich für unkonventionelle Architektur interessiert hat und gern mit dem Wagen durch die Neubaugebiete Oberschwabens streunte mit uns, um sich anzuschauen, was die Leute so bauten. Die im Jahr 2014, als die Familie Weller es aufgegeben hat, zuletzt aktualisierte Webseite für das Haus, hat einige Bilder und Beschreibungen, hergestellt von Dirk Weller, Sohn des Bauherrnpaars Christel und Rainer Weller. Der Architekt des zweigeschoßigen, aus zwei gegeneinander verschobenen Halbspiralen bestehenden und außen und innen mit menschlichen Formen, Lippen, Mündern, Händen und einem von der Straße aus gut sichtbaren Ohr um die Gegensprechanlage herum dekorierten Hangbaus in der vornehmen Gartenstraße ist Dieter Schmid, ebenfalls ein Biberacher, von dem es am Schlehenhang in Bachlangen, der anderen sehr guten Wohngegend der Stadt, noch sein eigenes Haus gibt, aus dessen Fassade, wie es mir aus Erinnerungen aus versunkener Jugendvorzeit langsam wieder deutlich wurde, die Form eines menschlichen Beins hervorhängt. Er hat eine Webseite, die, wenn ich mich nicht irre, mit Dreamweaver hergestellt worden ist und also um die 20 Jahre alt sein dürfte. Dort erklärt er seine wenigen realisierten Bauten, seine Grundsätze und einen nicht gebauten Wettbewerbsbeitrag für den Landtag von Nordrhein-Westfalen, der einen umgestürzten, erschlafften Düsseldorfer Fernsehturm vorsieht. Das auf dieser Webseite erwähnte Buch „Von der Serie zum Gesamtkunstwerk“ über seine Architektur hat Rainer Weller geschrieben. Der Dritte in diesem Bunde Biberacher Bau-Merkwürdiger ist der Künstler Martin Heilig, der die Malerei und wohl viele Ideen im Gesamtkunstwerk Wellerhaus beigetragen hat. Dieser Martin Heilig muß den mindestens vier am Vortag bei der Poolparty anwesenden ehemaligen Chefredakteurinnen und -redakteuren der Schülerzeitung Funzel bereits ein Begriff sein, weil er die legendäre 1968er Revolutions-Sondernummer „Venceremos“ (mit einem die gesamte Bundesrepublik provozierenden Phallus auf dem Titel) mitverantwortet und sich auf dem Marktplatz mit einem wahlkämpfenden Bundeskanzler Kiesinger angelegt hatte. („Armer Martin“, kommentiert Dirk Weller den FAZ-Artikel zum Revolten-Jubiläum 2008, der diese alte Kamelle auspackt.) Das Wellerhaus steht formal in einer interessanten Beziehung zu meinem eigenen Haus von Heinrich Niemeyer: beide Häuser sind um einen Zentralturm herum gebaut, in den die Dächer eingehängt sind, beide stehen am Hang, beide strukturieren ihre Innenräume ohne Türen, und während das Schneckenhaus seine Spiralstruktur deutlicher betont, hat Niemeyer bei meinem Haus die Räume von den offenen Kaminen her durchaus ebenfalls im Uhrzeigersinn nach außen wegentwickelt. Schmid und Niemeyer sind sich auch ideologisch zumindest soweit einig, als sie das Wohnen in Schachteln verabscheuen und versuchen, den Sachzwängen des Bauens poetischere Wohnformen abzuringen. Die beiden Häuser entstehen in etwa gleichzeitig, und schließlich hat Schmid die Idee, daß ein Haus ein „Thema“ haben sollte, das, nachdem die Bautradition und ihre Formen entmachtet sind, formale Beliebigkeit verhindern und die Einheit eines Baus sicherstellen soll. Davon weiß zwar die Niemeyer-Forschung nichts, wohl aber der Volksmund bei mir am Gleiberg: Man ist sich dort einig, daß mein Haus das „Haus, das wie ein Schiff aussieht“ sei, und tatsächlich hat es mit der charakteristischen weit auskragenden Niemeyer-Spitze nicht nur einen Bug, sondern mit dem Essbereich auch eine Lotsenbrücke. Letzten Sommer habe ich selbst aus rein praktischen Gründen mit einer Sonnensegel-Anlage gewissermaßen Bugspriet und Fock beigesteuert, die der Architekt, so bin ich überzeugt, nur nicht selbst schon so geplant hat, weil es die Technik dafür 1974 noch nicht gab. Der Unterschied zwischen den Form- und Materialsprachen der beiden Häuser könnte aber kaum größer sein, und das ist eine Dimension, die Niemeyer sehr explizit interessiert hat: Beim Gleiberghaus sind die Formen kristallin und die Materialien organisch — Holz spielt eine wichtige Rolle –, beim Wellerhaus sind die Formen organisch und die Materialien artifiziell: der Eingangsbogen zur Einliegerwohnung sei, so beschreibt es Dirk Weller, aus Bauschaum geformt und klinge hohl. Niemeyers frühe Häuser sind Kristalle, hexagonale Pfahlbauten aus Glas, Schmids frühe Bauten sind weich geformte Kunststoff-Modul-Häuser. Schmid, Weller und Heilig sind damit durch und durch 68er, machen die radikalen modernen Gesten — in Plastik, bis die Ölkrise diesem Spuk ein Ende bereitet — mit und eskalieren dann klassisch-68er-haft nach dem ideologischen Bankrott der Revolte ins Private, Obszöne, Psychedelische, nach innen. Das berühmteste Schneckenhaus der Literatur ist nicht umsonst die Villa Straylight. Niemeyer mit seinem Projekt, die amerikanische Moderne, Wright und Lautner vor allem, an der deutschen Geschichte vorbei gerade noch rechtzeitig ins Land zu schmuggeln und eine neue, jetzt ökologische Rationalität für eine vernünftige Architektur zu entwickeln, wirkt im Vergleich gesünder, aber natürlich auch ein bisschen langweiliger und sehr viel anschlussfähiger: Niemeyer hat viel mehr gebaut als Schmid, und seine Bauherrn waren nur in seinen frühen Jahren Künstler und Lehrer. Mit dem Erfolg kamen die Ärzte und Unternehmer, und die frühen spiraligen Kristalle zogen sich zu großen Bananen in richtigen Parks auseinander. Diese großen Häuser werden heute von reichen Zweit-Eigentümern aufs Scheußlichste der Mode angepasst und mit der deutschen Schlachthof-Armatur-Ästhetik in gebürstetem Edelstahl gegen jede Intention des Architekten nachgerüstet. Gegen eine solche Zurückvereinnahmung in den Großen Lall ist das Wellerhaus immerhin gefeit: Man müsste ihm schon mit einem Presslufthammer zu Leibe rücken, um eine grade Form für einen dieser Schlachthof-Handläufe herauszuschnitzen. Die Befreiungsrhetorik des Trios aus Bauherr, Architekt und Künstler allerdings läuft, aus dem großen Abstand des Jahres 2022 betrachtet, ins Leere. Wahr und wertvoll ist, daß das Wellerhaus keine Schachtel ist und einen Sinn für das Sakrale bewusst umbauten Raums hat: Selten genug. Eine Befreiung aber muß auf eine Freiheit zu, nicht nur von einer Gefangenheit fort führen, und das Wellerhaus befreit sich direkt in neue, größere Schrecken hinein: Tote Dinge dürfen kein Gesicht haben, weil sie ewig sind, Gesichter aber altern müssen. Gesichter und Gliedmaßen brauchen auch ihre bestimmte Ordnung, andernfalls sie eine Zerstückelung darstellen. Das Wellerhaus und das Haus des Architekten Schmid entkommen deswegen nicht dem Eindruck, kristalline Gegenstände zu sein, die mit abgetrenntem Menschenfleisch behängt wurden. Häuser sind eben selbst keine lebendigen Dinge, und sie dürfen nicht aussehen wie lebendige Dinge: Das Leben bringen die Menschen mit, ein Haus muß seine Rolle als Gegenstand, der nicht lebt, der seine Bewohner überdauern wird als toter Stein, nicht lebendiges Fleisch, akzeptieren. Diese Verwechslung in Sachen Menschlichkeit, die Projektion von lebendigem Selbst ins unbelebte Außen, die verwischte Grenze zum Anorganischen, ist nicht untypisch für die Generation 68 und ihre bevorzugte Droge LSD. Falls Psychedelika hier eine Rolle gespielt haben sollten (was ich, auch durch Befragen von Biberachern, bisher nicht in Erfahrung habe bringen können), überrascht es jedenfalls nicht, daß die Wellers und Schmid in ihren Selbstzeugnissen gar nicht verstanden zu haben scheinen, wie unheimlich ihre Häuser sind. Schmid jedenfalls macht auf seiner späten Webseite das Biberacherischste aller Manöver: Er klagt über die Weigerung der Welt, die von Biberach ausgehende Avantgarde wahrzunehmen, ohne genug Distanz aufgebaut zu haben, um die Gründe für die ausbleibende Gefolgschaft durchschauen zu können. Die Gekränktheit ist ebenfalls typisch: So ganz eigenständig ist der Biberacher Geschmack eben doch nie, egal wie befreit er angeblich ist, der Blick von Außen bleibt maßgeblich. Als wunderbare sehr biberacherische Schrulligkeiten funktionieren die Häuser Schmids, vielleicht sogar als Kunstwerke des inzwischen ideologisch dominanten sentimentalen Humanismus, als Architektur allerdings sind sie eben keine Avantgarde gewesen: Nicht in Schachteln zu wohnen ist wichtig, aber Schmid ist ein Irrweg.
Der Ortswechsel von San Francisco an den Gleiberg verschlingt ein Wochenende, aber daß er nicht ein Lebensjahrzehnt verschlingt, ist mir rätselhaft: Downtown, die Bay, Sacramento, Reno, Berge, endloses leeres Kanada, Hudson Bay, Eisberge dann vor Grönland, Grönland, Island, die Hebriden, Aberdeen, die Niederlande, im Anflug auf Frankfurt die Stationen meiner Südroute, und ich sehe die Linde, die vor der letzte erwanderten Waldlinie steht und die ich jetzt persönlich kenne, auch vom Flugzeug aus.
In San Francisco hat mich eine Neunzehnjährige in der Sicherheitsschlange vor mir beeindruckt mit einem viel zu großen grauen Baumwollsweater, irgendwelchen Turnhosen und einem durchgerockten kleinen Handgepäck von Bogner, vor allem aber mit Chucks, von denen der linke über die Kunststoffkappe mit Tape geflickt war. Lässiger kann man nicht in ein Flugzeug steigen. Sicher hilft dabei, daß sie absurd schön ist, was man nur für einen Sekundenbruchteil sehen konnte, als sie für die TSA die Maske abnehmen musste. Weil sie mich so beeindruckt hatte, nicht mit ihrer Schönheit, sondern mit diesem Sweater und diesen Schuhen, versuchte ich sie zurückzubeeindrucken, indem ich das Sicherheitsritual hinter ihr mit präziser Langsamkeit und ohne das übliche sinnlose Drängeln und Zufrühauspacken aufführte, Telefone, Flüssigkeiten, Computer, Aldens mit einem Handgriff arrangierte, keinen klemmenden Reissverschluss, kein Traygepolter, kein Gehüpfe auf einem Bein produzierte; das gelang und wurde kurz auch bemerkt, einfach als angenehme lässigkeitsinspirierte Lässigkeit unter Fremden, die sich im Parfumirrgarten verlieren würden.
Das war vor 24 Stunden und damit vor einer unklaren gebrochenen Zahl von Tagen. Die völlige, teppichgedämpfte Stille in meinem Arbeitszimmer summt jetzt, in meinem Jetlag, mit fiebrig am Rand des Bewusstseins loopenden Nachklängen von Kite, Julie Christmas, Joan Baez und den anderen in den 10 Flugzeugstunden gehörten Platten; dazu dem 7-Tages-Echo der metropolitanen Dröhnkulisse aus millionenfacher Aircon, Fahrzeugen, Sirenen und Stimmen.
Es ist nicht zu verstehen, daß diese nahtlose Transition möglich sein soll, daß kein Schnitt stattgefunden hat an diesem nie endenden Tag, den wir weit im Norden da durchflogen haben; von hier aus ist die Existenz von San Francisco selbst unverständlich; die Rolle der Musik ist unklar, die Rolle der blauen Eisberge zehn Kilometer unter mir, die neun verschwundenen Stunden, die doch in einem Musik-Kokon im Dämmer erlebt worden sind.
Ich habe auch Neuromancer wiedergelesen unterwegs. Was ich vergessen hatte oder nicht zuordnen konnte bei den beiden vorherigen Lektüren: Gibson hat la mariée mise à nu par ses célibataires, même in der Villa Straylight platziert, eine passende Dekoration für den Ort in der Ästhetik des Texts und der der Tessier-Ashpools. Zugleich ist das Große Glas aber, und das wurde mir jetzt beim Wiederlesen klar, auch das Modell für die Männer-Frauen-Beziehungen in diesem Text. Und wie awesome die Frauen in Neuromancer sind, nicht nur Molly, nobody’s woman, maybe, sondern vor allem 3Jane und Linda und natürlich Marie-France: alle la mariée, die Männer alle célibataires, der große Intensitätsdynamo auch des Buchs, und qua Hyperstition seit diesem Text der gesamten KI innerhalb und außerhalb des Texts.
Neuromancer erzählt, im ersten Band der Trilogie, die eine einzige KI-Geschichte, die es geben kann, der Rest ist Kommentar, auch die Blue-Ant-Bücher sind Erläuterungen im Grunde. Ich kann mir längst nicht mehr vorstellen, die Welt anders als durch diesen Text zu lesen, die Geschichte des Planeten (bei meinem Blick über die Tragfläche einer schon etwas schrundigen 767-300) anders wahrzunehmen als primär nicht von menschlichen Agenten betrieben, sondern von Abstrakta, Dämonen, Kapital, Kapitalgesellschaften, Basilisken, die uns in diese Flugzeuge setzen und unheilige Reisen machen lassen; Gibson’s Pulp/Gamer-Deleuze ist die korrekte Schablone für das, was passiert, dafür, wie Macht funktioniert. Diese Luzidität vis-a-vis der Phänomenologie der Macht und der Existenz dämonischer Agenten, die jeden Satz so holografisch glimmen lässt in Neuromancer, ist transferierbar in die Wirklichkeit, weil der Text in der Wirklicheit spielt wie kaum ein anderer. (Braun heißt Apple in der Variante der Welt, wie sie dann wirklich geworden ist, aber auch diese Beziehung ist möglicherweise hyperstitional.)
Eisberge. Kite. Julie Christmas. Getapte Chucks. Sierra Nevada. 3Jane. Riviera. Noa. Die Braut. Games. Photorealistische DALL-E-Ergebnisse. Vier Partien gegen Shredder. Straylight. Straylight. Babylon if there ever was Babylon. His eyes were eggs of unstable crystal, vibrating with a frequency whose name was rain and the sound of trains, suddenly sprouting a humming forest of hair-fine glass spines.
Durch kniehohes Gras zwischen Wintergerste und Raps
aus dem Lahntal herauf auf die erste Waldlinie zu,
die ich vom Wohnzimmer aus sehen kann im Süden,
schritt ich durch die Mittagssonne, ein Ei pellend.
Ich war hineingegangen in die Landschaft vor mir,
hatte die Haustür auf- und zugeklappt wie zuvor,
aber anders als zuvor den Wagen dortgelassen
und war hineingegangen in die Landschaft.
Durch die Lahnauen und über zwei Autobahnen
über die Felder und durch die Waldzungen,
die sich auf den Höhenzügen von Osten und Westen
hineinschieben in die unterwegs unklare Sichtlinie,
ging ich, Dörfer an den Ortsrändern oft streifend,
durch Wohngebiete mit Toskana- und Alpenhäusern,
und durch Wohngebiete mit Resten der Moderne,
wo die Bungalows Kraut in den Einfahrten haben
wo Zementstaub aus den glaslosen Wohnzimmern weht
wo Rolläden schief den Tod der Bewohner bezeugen
und der Generationswechsel vorbereitet wird
von Frankfurter Audis oder schon Arbeitern und Gips.
In den Kernen der Orte sitzen die Kirchen,
die Metzgereien und orthopädischen Schuhgeschäfte,
die hessischen Höfe mit Fachwerk und Toren zur Straße,
und man kann den Asphalt aufheben und findet Geröll,
Kuhmist und Hühner und Kinder mit Stöcken und Vieh,
Särge im Regen, Ochsen im Gerschirr, ein Automobil,
und die Vergangenheit, in der die Menschen in ihren
Landschaften noch herumgegangen sind wie ich,
ist noch da, weil die Wege noch sind, wo sie gewesen,
als die Leute in die Dörfer gekommen sind wie ich,
über die Felder; Rast gemacht haben an den Gehölzen,
oder wo eine kleine Brücke einen der Zuflüsse des
Kleebachs überquert und ein Stein schon lange sitzt.
Die Sichtlinien zur Burg und zum großen Feldberg
verlieren sich und finden sich wieder, verlieren sich
in den Dörfern, die in die Täler gebaut sind,
verlieren sich in den Wiesen, die die Täler flankieren
und finden sich auf den Höhen, vor den Wäldern
oder zwischen Getreiden und Kornblumenstreifen.
Die Jäger warnen vor der Fuchsräude auf roten Schildern
und man hat sie im Verdacht, die Fuchsräude zu erfinden
um die losen Hunde fernzuhalten aus den Revieren;
die Jäger haben prächtige Ansitze gebaut mit Namenstafeln,
und Bänke gestiftet für mich, in ihrer Seniorengruppe.
Holz liegt klafterweise in den Wäldern, Buchen und Fichten,
neongrün markiert mit den geheimnisvollen Zusprechungen
der Forstwirtschaft, frisch geschlagen zuweilen,
jahrelang nicht bewegt manchmal, rätselhaft ist der Forst.
Zeichen des Eigensinns zeigen sich hier und da,
ein Bagger, der ein halbes Jahrhundert alt ist,
rostiger als gelb, auf einem privaten Hügel,
ein LKW-Anhänger auf Reifen noch, aber mit Hühnerklappe,
umscharrt und unbeweglich für immer wohl,
Landmaschinen in verschiedenen Zuständen des Zerfalls.
Und Zeichen der Sauberkeit in den Neubaugebieten,
die die Dörfer in die Hänge hochschicken als Boten
der Gegenwart, weiß und schwarz, Wärmepumpe und Rasen,
und ein Kind, das wortlos aus seinem Gehege herausschaut,
das es mit der Wärmepumpe und dem Rasen teilt,
von den Eltern noch bewacht, die nicht aufschauen
zu dem Mann mit dem weißen Hemd, der aus dem Wald
herausmarschiert kommt in das Dorf hinein, wie lange
keiner gekommen ist aus dem Wald heraus, vielleicht niemals,
denn der Taunusklub hat kein Schild an diesen Weg gesetzt,
und kein Hashtag macht ihn real für die Welt.
Es muß schon einer eine Sichtlinie haben aus Zufall,
zum großen Feldberg von seinem Wohnzimmer,
um hier vorbeizukommen als Pilgerim und Wandersmann.
[Der tiefe Friede, der immer noch herrscht, die Ungestörtheit von alldem]
Es ist ein Sommerabend, und die Menschen strömen ins Stadion am Wald, in bunten Kleidern und weißen Hemden. Es riecht nach Zeder und Bratwurst und Autan, und die Schatten zittern lang über die schrundigen Geländer und moosigen Betontreppen. Die Mücken schwärmen und die Schwalben. Es wird ein warmer Abend sein. Über dem Stadion schwirrt ein vieltausendfaches Gespräch, das stiller wird, während die Sonne hinter die Wipfel sinkt und die Flutlichter durch die Insektenschwärme brechen. Die Insekten leuchten elektrisch. Im Stadion ist ein riesiger grauer Quader aufgebaut, glatt an den langen Seiten, mit sausenden Lüftungsgrills an den kurzen. Das Gespräch über dem Stadion wird leiser und leiser und verstummt schließlich ganz. Nur das Sausen der Lüftungen ist zu hören, das Summen der Insektenflügel, die Elektrizitätsversorgung der Flutlichter knistert. Über die gesamte Länge des Quaders ist eine stählerne Saite gespannt. Sie beginnt zu schwingen, sichtbar und hörbar, ein gewaltiger Bass und mehrere Obertöne, sichtbar und hörbar, sinken in die Insekten- und Stromkulisse und heben sie an zu einem Geräusch, wie es in diesem Stadion jeden Donnerstagabend erklingt, freilich nur im Sommer.