Die immer ultra lässigen Fahnenschwinger marschierten über den Biberacher Marktplatz ohne auch nur Notiz zu nehmen vom zahlreich auf den Tribünen versammelten, Eis essenden und auf inoffizielle kleine Vorführungen hoffenden Publikum. Es war Schützenfest in Biberach, das Kinder- und Heimatfest, das nicht vom Schießen handelt, dankenswerterweise, und statt dessen fünfhundert Jahre Krieg und Totschlag in Europa als bunte Uniformen- und Marschtrommelfolklore vollkommen entübelt, eine Art Rammstein-Performance der Konfessionskriege. Die Fahnenschwinger sind die Elite unter den dutzenden uniformierten Trommelgruppen, die eine Woche lang kreuz und quer durch die Altstadt ziehen: Die Kombination aus Landsknechtrommeln und Paradesnares beeindruckt schon aus der Ferne, die Fahnen sehen großartig aus und erzwingen eine imposant stoische Konzentration und attraktive Weitverteiltheit in der Marschordung. Wie schwierig die Biberacher Trommeltruppen-Semiotik zwischen Fahnenschwingern und Fegern (die ich am Abend vorher bei der Housewarming-Party meines Freunds Uwe mit einem einzigen Platsch in den Pool hatte springen sehen dürfen) zu erklären ist, fällt dem Biberacher erst auf, wenn er Gäste von auswärts mitbringt: Die Feger sind eine großartig merkwürdige Innovation in einem Kontext, in dem die Fahnenschwinger normal und gewissermaßen das Establishment sind. Jedenfalls brachen wir nach dem ungerührt Fahnen werfenden Durchmarsch der Fahnenschwinger auf, um über die Treppen auf den Gigelberg zu steigen, wo der Jahrmarktteil des Biberacher Schützenfests stattfindet. Unter anderem weil das Riesenrad das einzige für einen Gentleman denkbare Fahrgeschäft ist folgten wenig später einige Runden in der gewaltigen, thematisch Paris-basierten, schon etwas älteren Maschine. Von unserer Gondel dort oben, beim Blick auf die Stadt schließlich, fiel mir ein von mir seit Dekaden vergessenes Biberacher Haus wieder in die Augen mit seinem roten Spiraldach: Das Wellerhaus oder Schneckenhaus, an dem ich in meiner frühend Jugend oft vorbeigerollt war an regnerischen schläfrigen Herbstsamstagen, auf dem Rücksitz im Auto meines Vaters, der sich für unkonventionelle Architektur interessiert hat und gern mit dem Wagen durch die Neubaugebiete Oberschwabens streunte mit uns, um sich anzuschauen, was die Leute so bauten. Die im Jahr 2014, als die Familie Weller es aufgegeben hat, zuletzt aktualisierte Webseite für das Haus, hat einige Bilder und Beschreibungen, hergestellt von Dirk Weller, Sohn des Bauherrnpaars Christel und Rainer Weller. Der Architekt des zweigeschoßigen, aus zwei gegeneinander verschobenen Halbspiralen bestehenden und außen und innen mit menschlichen Formen, Lippen, Mündern, Händen und einem von der Straße aus gut sichtbaren Ohr um die Gegensprechanlage herum dekorierten Hangbaus in der vornehmen Gartenstraße ist Dieter Schmid, ebenfalls ein Biberacher, von dem es am Schlehenhang in Bachlangen, der anderen sehr guten Wohngegend der Stadt, noch sein eigenes Haus gibt, aus dessen Fassade, wie es mir aus Erinnerungen aus versunkener Jugendvorzeit langsam wieder deutlich wurde, die Form eines menschlichen Beins hervorhängt. Er hat eine Webseite, die, wenn ich mich nicht irre, mit Dreamweaver hergestellt worden ist und also um die 20 Jahre alt sein dürfte. Dort erklärt er seine wenigen realisierten Bauten, seine Grundsätze und einen nicht gebauten Wettbewerbsbeitrag für den Landtag von Nordrhein-Westfalen, der einen umgestürzten, erschlafften Düsseldorfer Fernsehturm vorsieht. Das auf dieser Webseite erwähnte Buch „Von der Serie zum Gesamtkunstwerk“ über seine Architektur hat Rainer Weller geschrieben. Der Dritte in diesem Bunde Biberacher Bau-Merkwürdiger ist der Künstler Martin Heilig, der die Malerei und wohl viele Ideen im Gesamtkunstwerk Wellerhaus beigetragen hat. Dieser Martin Heilig muß den mindestens vier am Vortag bei der Poolparty anwesenden ehemaligen Chefredakteurinnen und -redakteuren der Schülerzeitung Funzel bereits ein Begriff sein, weil er die legendäre 1968er Revolutions-Sondernummer „Venceremos“ (mit einem die gesamte Bundesrepublik provozierenden Phallus auf dem Titel) mitverantwortet und sich auf dem Marktplatz mit einem wahlkämpfenden Bundeskanzler Kiesinger angelegt hatte. („Armer Martin“, kommentiert Dirk Weller den FAZ-Artikel zum Revolten-Jubiläum 2008, der diese alte Kamelle auspackt.) Das Wellerhaus steht formal in einer interessanten Beziehung zu meinem eigenen Haus von Heinrich Niemeyer: beide Häuser sind um einen Zentralturm herum gebaut, in den die Dächer eingehängt sind, beide stehen am Hang, beide strukturieren ihre Innenräume ohne Türen, und während das Schneckenhaus seine Spiralstruktur deutlicher betont, hat Niemeyer bei meinem Haus die Räume von den offenen Kaminen her durchaus ebenfalls im Uhrzeigersinn nach außen wegentwickelt. Schmid und Niemeyer sind sich auch ideologisch zumindest soweit einig, als sie das Wohnen in Schachteln verabscheuen und versuchen, den Sachzwängen des Bauens poetischere Wohnformen abzuringen. Die beiden Häuser entstehen in etwa gleichzeitig, und schließlich hat Schmid die Idee, daß ein Haus ein „Thema“ haben sollte, das, nachdem die Bautradition und ihre Formen entmachtet sind, formale Beliebigkeit verhindern und die Einheit eines Baus sicherstellen soll. Davon weiß zwar die Niemeyer-Forschung nichts, wohl aber der Volksmund bei mir am Gleiberg: Man ist sich dort einig, daß mein Haus das „Haus, das wie ein Schiff aussieht“ sei, und tatsächlich hat es mit der charakteristischen weit auskragenden Niemeyer-Spitze nicht nur einen Bug, sondern mit dem Essbereich auch eine Lotsenbrücke. Letzten Sommer habe ich selbst aus rein praktischen Gründen mit einer Sonnensegel-Anlage gewissermaßen Bugspriet und Fock beigesteuert, die der Architekt, so bin ich überzeugt, nur nicht selbst schon so geplant hat, weil es die Technik dafür 1974 noch nicht gab. Der Unterschied zwischen den Form- und Materialsprachen der beiden Häuser könnte aber kaum größer sein, und das ist eine Dimension, die Niemeyer sehr explizit interessiert hat: Beim Gleiberghaus sind die Formen kristallin und die Materialien organisch — Holz spielt eine wichtige Rolle –, beim Wellerhaus sind die Formen organisch und die Materialien artifiziell: der Eingangsbogen zur Einliegerwohnung sei, so beschreibt es Dirk Weller, aus Bauschaum geformt und klinge hohl. Niemeyers frühe Häuser sind Kristalle, hexagonale Pfahlbauten aus Glas, Schmids frühe Bauten sind weich geformte Kunststoff-Modul-Häuser. Schmid, Weller und Heilig sind damit durch und durch 68er, machen die radikalen modernen Gesten — in Plastik, bis die Ölkrise diesem Spuk ein Ende bereitet — mit und eskalieren dann klassisch-68er-haft nach dem ideologischen Bankrott der Revolte ins Private, Obszöne, Psychedelische, nach innen. Das berühmteste Schneckenhaus der Literatur ist nicht umsonst die Villa Straylight. Niemeyer mit seinem Projekt, die amerikanische Moderne, Wright und Lautner vor allem, an der deutschen Geschichte vorbei gerade noch rechtzeitig ins Land zu schmuggeln und eine neue, jetzt ökologische Rationalität für eine vernünftige Architektur zu entwickeln, wirkt im Vergleich gesünder, aber natürlich auch ein bisschen langweiliger und sehr viel anschlussfähiger: Niemeyer hat viel mehr gebaut als Schmid, und seine Bauherrn waren nur in seinen frühen Jahren Künstler und Lehrer. Mit dem Erfolg kamen die Ärzte und Unternehmer, und die frühen spiraligen Kristalle zogen sich zu großen Bananen in richtigen Parks auseinander. Diese großen Häuser werden heute von reichen Zweit-Eigentümern aufs Scheußlichste der Mode angepasst und mit der deutschen Schlachthof-Armatur-Ästhetik in gebürstetem Edelstahl gegen jede Intention des Architekten nachgerüstet. Gegen eine solche Zurückvereinnahmung in den Großen Lall ist das Wellerhaus immerhin gefeit: Man müsste ihm schon mit einem Presslufthammer zu Leibe rücken, um eine grade Form für einen dieser Schlachthof-Handläufe herauszuschnitzen. Die Befreiungsrhetorik des Trios aus Bauherr, Architekt und Künstler allerdings läuft, aus dem großen Abstand des Jahres 2022 betrachtet, ins Leere. Wahr und wertvoll ist, daß das Wellerhaus keine Schachtel ist und einen Sinn für das Sakrale bewusst umbauten Raums hat: Selten genug. Eine Befreiung aber muß auf eine Freiheit zu, nicht nur von einer Gefangenheit fort führen, und das Wellerhaus befreit sich direkt in neue, größere Schrecken hinein: Tote Dinge dürfen kein Gesicht haben, weil sie ewig sind, Gesichter aber altern müssen. Gesichter und Gliedmaßen brauchen auch ihre bestimmte Ordnung, andernfalls sie eine Zerstückelung darstellen. Das Wellerhaus und das Haus des Architekten Schmid entkommen deswegen nicht dem Eindruck, kristalline Gegenstände zu sein, die mit abgetrenntem Menschenfleisch behängt wurden. Häuser sind eben selbst keine lebendigen Dinge, und sie dürfen nicht aussehen wie lebendige Dinge: Das Leben bringen die Menschen mit, ein Haus muß seine Rolle als Gegenstand, der nicht lebt, der seine Bewohner überdauern wird als toter Stein, nicht lebendiges Fleisch, akzeptieren. Diese Verwechslung in Sachen Menschlichkeit, die Projektion von lebendigem Selbst ins unbelebte Außen, die verwischte Grenze zum Anorganischen, ist nicht untypisch für die Generation 68 und ihre bevorzugte Droge LSD. Falls Psychedelika hier eine Rolle gespielt haben sollten (was ich, auch durch Befragen von Biberachern, bisher nicht in Erfahrung habe bringen können), überrascht es jedenfalls nicht, daß die Wellers und Schmid in ihren Selbstzeugnissen gar nicht verstanden zu haben scheinen, wie unheimlich ihre Häuser sind. Schmid jedenfalls macht auf seiner späten Webseite das Biberacherischste aller Manöver: Er klagt über die Weigerung der Welt, die von Biberach ausgehende Avantgarde wahrzunehmen, ohne genug Distanz aufgebaut zu haben, um die Gründe für die ausbleibende Gefolgschaft durchschauen zu können. Die Gekränktheit ist ebenfalls typisch: So ganz eigenständig ist der Biberacher Geschmack eben doch nie, egal wie befreit er angeblich ist, der Blick von Außen bleibt maßgeblich. Als wunderbare sehr biberacherische Schrulligkeiten funktionieren die Häuser Schmids, vielleicht sogar als Kunstwerke des inzwischen ideologisch dominanten sentimentalen Humanismus, als Architektur allerdings sind sie eben keine Avantgarde gewesen: Nicht in Schachteln zu wohnen ist wichtig, aber Schmid ist ein Irrweg.