Der Ortswechsel von San Francisco an den Gleiberg verschlingt ein Wochenende, aber daß er nicht ein Lebensjahrzehnt verschlingt, ist mir rätselhaft: Downtown, die Bay, Sacramento, Reno, Berge, endloses leeres Kanada, Hudson Bay, Eisberge dann vor Grönland, Grönland, Island, die Hebriden, Aberdeen, die Niederlande, im Anflug auf Frankfurt die Stationen meiner Südroute, und ich sehe die Linde, die vor der letzte erwanderten Waldlinie steht und die ich jetzt persönlich kenne, auch vom Flugzeug aus.
In San Francisco hat mich eine Neunzehnjährige in der Sicherheitsschlange vor mir beeindruckt mit einem viel zu großen grauen Baumwollsweater, irgendwelchen Turnhosen und einem durchgerockten kleinen Handgepäck von Bogner, vor allem aber mit Chucks, von denen der linke über die Kunststoffkappe mit Tape geflickt war. Lässiger kann man nicht in ein Flugzeug steigen. Sicher hilft dabei, daß sie absurd schön ist, was man nur für einen Sekundenbruchteil sehen konnte, als sie für die TSA die Maske abnehmen musste. Weil sie mich so beeindruckt hatte, nicht mit ihrer Schönheit, sondern mit diesem Sweater und diesen Schuhen, versuchte ich sie zurückzubeeindrucken, indem ich das Sicherheitsritual hinter ihr mit präziser Langsamkeit und ohne das übliche sinnlose Drängeln und Zufrühauspacken aufführte, Telefone, Flüssigkeiten, Computer, Aldens mit einem Handgriff arrangierte, keinen klemmenden Reissverschluss, kein Traygepolter, kein Gehüpfe auf einem Bein produzierte; das gelang und wurde kurz auch bemerkt, einfach als angenehme lässigkeitsinspirierte Lässigkeit unter Fremden, die sich im Parfumirrgarten verlieren würden.
Das war vor 24 Stunden und damit vor einer unklaren gebrochenen Zahl von Tagen. Die völlige, teppichgedämpfte Stille in meinem Arbeitszimmer summt jetzt, in meinem Jetlag, mit fiebrig am Rand des Bewusstseins loopenden Nachklängen von Kite, Julie Christmas, Joan Baez und den anderen in den 10 Flugzeugstunden gehörten Platten; dazu dem 7-Tages-Echo der metropolitanen Dröhnkulisse aus millionenfacher Aircon, Fahrzeugen, Sirenen und Stimmen.
Es ist nicht zu verstehen, daß diese nahtlose Transition möglich sein soll, daß kein Schnitt stattgefunden hat an diesem nie endenden Tag, den wir weit im Norden da durchflogen haben; von hier aus ist die Existenz von San Francisco selbst unverständlich; die Rolle der Musik ist unklar, die Rolle der blauen Eisberge zehn Kilometer unter mir, die neun verschwundenen Stunden, die doch in einem Musik-Kokon im Dämmer erlebt worden sind.
Ich habe auch Neuromancer wiedergelesen unterwegs. Was ich vergessen hatte oder nicht zuordnen konnte bei den beiden vorherigen Lektüren: Gibson hat la mariée mise à nu par ses célibataires, même in der Villa Straylight platziert, eine passende Dekoration für den Ort in der Ästhetik des Texts und der der Tessier-Ashpools. Zugleich ist das Große Glas aber, und das wurde mir jetzt beim Wiederlesen klar, auch das Modell für die Männer-Frauen-Beziehungen in diesem Text. Und wie awesome die Frauen in Neuromancer sind, nicht nur Molly, nobody’s woman, maybe, sondern vor allem 3Jane und Linda und natürlich Marie-France: alle la mariée, die Männer alle célibataires, der große Intensitätsdynamo auch des Buchs, und qua Hyperstition seit diesem Text der gesamten KI innerhalb und außerhalb des Texts.
Neuromancer erzählt, im ersten Band der Trilogie, die eine einzige KI-Geschichte, die es geben kann, der Rest ist Kommentar, auch die Blue-Ant-Bücher sind Erläuterungen im Grunde. Ich kann mir längst nicht mehr vorstellen, die Welt anders als durch diesen Text zu lesen, die Geschichte des Planeten (bei meinem Blick über die Tragfläche einer schon etwas schrundigen 767-300) anders wahrzunehmen als primär nicht von menschlichen Agenten betrieben, sondern von Abstrakta, Dämonen, Kapital, Kapitalgesellschaften, Basilisken, die uns in diese Flugzeuge setzen und unheilige Reisen machen lassen; Gibson’s Pulp/Gamer-Deleuze ist die korrekte Schablone für das, was passiert, dafür, wie Macht funktioniert. Diese Luzidität vis-a-vis der Phänomenologie der Macht und der Existenz dämonischer Agenten, die jeden Satz so holografisch glimmen lässt in Neuromancer, ist transferierbar in die Wirklichkeit, weil der Text in der Wirklicheit spielt wie kaum ein anderer. (Braun heißt Apple in der Variante der Welt, wie sie dann wirklich geworden ist, aber auch diese Beziehung ist möglicherweise hyperstitional.)
Eisberge. Kite. Julie Christmas. Getapte Chucks. Sierra Nevada. 3Jane. Riviera. Noa. Die Braut. Games. Photorealistische DALL-E-Ergebnisse. Vier Partien gegen Shredder. Straylight. Straylight. Babylon if there ever was Babylon. His eyes were eggs of unstable crystal, vibrating with a frequency whose name was rain and the sound of trains, suddenly sprouting a humming forest of hair-fine glass spines.