Das Bild zeigt Ylvie und Georg in einem Dekor voller Spiegel und Stuck und Allegorie, in einem tiefen Gang. Es ist lange vor Georgs Gartenzeit aufgenommen worden. Georg trägt einen Smoking und seine Haare mit Gel in eine Welle gelegt. Ylvie trägt ein schwarzes Kleid und lange Handschuhe und keinen Lippenstift, aber einen Blick; beide halten sie Champagnerschalen in den Händen. Ich selbst habe dieses Bild photographiert damals und die beiden wissen nicht mehr, daß es existiert. Wir sind nicht sentimental zu einander. Nachts, über Büchern oder eigenen Texten, wenn ich nicht weiterkomme, betrachte ich es manchmal, und es wird mir rätselhafter mit jedem mal; ich entdecke neue Details im Stuck und auf den undeutlichen Bildern und in den Falten um Ylvies Knie. An dieses alte Bild musste ich denken, als ich Georg zuletzt, im Herbst, besucht habe. Er saß, weil es zu kalt schon war für den Garten, in einem Sessel an der Scheibe. Zwei Stockwerke hoch ist das Glas dort, und draußen verloren die Bäume gelbe und rote Blätter an den Wind während wir sprachen. Über dieser Sitzgruppe, aus der Georg und seine Gäste bei kaltem Wetter in den Garten hinausschauen können, hängen zwei Photographien vor dem Waschbeton der Galeriebrüstung: Stilleben mit Vasen, die er selbst besitzt und die man auffinden kann im Haus, wenn man sich auf dem Weg ins Schwimmbad verirrt. Wir sprachen an diesem Herbsttag an der Scheibe über Literatur und eine ihrer Aufgaben, das Hineinschreiben von Glück, das aus dem Erinnern erzeugt wird, in die Gegenwart. Die Literatur, so behauptete Georg, sei das beinah einzige Werkzeug, das uns zur Verfügung stehe, um mit dem Schrecken umzugehen, der die Menschen in der Stille befällt, weil sie wissen was Zeit ist, weil sie ihre Möglichkeiten zerfallen sehen und ihre Kinder und Eltern älter werden und weil sie so die unvermeidlichen Lektionen der Enttäuschung lernen müssen eine nach der anderen. Das Glück entstehe nur beim Erzählen davon, durch das Weglassen des Schreckens und die Betonung der Wärme in der Welt; sonst aber sei es kaum denkbar, sei doch wirklich nur beim Erinnern und Wiederfühlen und Informbringen, in der Konzentration und Intensivmachung des seinerzeit im Lärm Verpassten zu finden. Glück sei nämlich bei Menschen, anders als bei den Katzen, die sich auf einen warmen Sims legen könnten, immer ein vermitteltes Glück. Ein Bild von einem warmen Sims, das einen an einen warmen Sims denken lasse mit aller Zuwendung, in einem Moment der Kontemplation, die Wärme aus der Zeit ziehen lasse, aus der Tiefe der Vergangenheit, das sei das Glück, ein simpler heißer Stein sei immer beschmutzt durch einen Termin, einen Tod, eine Sorge, einen Ärger, einen Schmerz oder auch nur eine noch nicht ganz vergessene, den Augenblick übschattende Peinlichkeit. Das, so denke ich, ist auch der Grund, warum er in diesem Garten verschwunden ist: um Bibliotheken von Bildern von diesen Bäumen und Trögen und Lichteinfällen auf Beton zu sammeln, Herbst um Herbst an dieser Scheibe, an diesem Ort, der so ein Ort mit Geschichten werden soll, zu verbringen, ohne daß viel passieren dürfte in diesen Geschichte. Das Achtsamsein, ein schon fast vergessener alter Lieblingsfeind Georgs, eine Art Krampf des Im-Moment-Lebens, das eine Weile lang von den Städtern für eine Antwort gehalten worden ist auf die Frage nach einem glücklichen Leben, missverstand diese auf dem Erinnern gebaute Struktur der Wirklichkeit und glaubte irrigerweise an die Möglichkeit eines klösterlichen Lebens in der Welt selbst, möglich durch Abkehr vom Bildschirm, aber mit dem am Bildschrim erlernten Anspruch an sofortige Verfügbarkeit erzwungen. Ich dachte an das alte Photo und diese alte ästhetische Schlacht, die wir zusammen geschlagen hatten in zahllosen Gesprächsrunden online und auf Bühnen, wie Georg da in seinem Sessel in einem Hausmantel aus gefütterter Seide saß und Tee trank, den er sich eingoß aus einer Kanne, die er niemals wusch: Winter-Georg war näher am alten Georg, dem Georg von meinem Photo, als der Sommer-Georg von meinem letzten Besuch, in seinen Gartensachen und seiner gärtnerischen Rastlosigkeit, die den Garten am liebsten ausgeweitet hätte über die Gräben hinaus in die Landschaft, nicht nur ideell, weil er die Landschaft eben insgesamt als Garten zu lesen wusste, sondern ganz praktisch seiner Pflege unterworfen: Dies hätte ihm die Möglichkeit gegeben, nicht nur diesen einen Garten, mit seiner einen Garten-Idee, zu bewohnen, sondern in allen Gärten, allen möglichen Gärten, mit allen möglichen Geometrien und Antigeometrien und Anordnungen von Leben zugleich zu sein; nur das wäre genug gewesen für ihn. Aber Treue und Endlichkeit hießen ihn den einen Garten behandeln als wäre er alle Gärten, und als verdiene dieser Garten Georgs ungebrochenen Hunger auf alle Gärten. Zuerst bemerkt hatten wir diesen uns gemeinsam bewussten Ausweg für unsere monströse Gier-unter-der-Endlichkeit freilich nicht beim Nachdenken über Gärten: Gärten gab es noch nicht in unseren Leben in den Jahren, aus denen meine Photographie im Gang stammt und in denen wir oft zu dritt auf solchen Gängen standen mit Champagnerschalen oder in Küchen saßen mit Tee, mit unserem Erstaunen über die Aufgabe, die uns allen gestellt war und deren enormes Ausmaß uns zunehmend erst bewusst geworden war in jenen späten Studentenjahren: Wir erbten ja eine Kultur von den alternden Erwachsenen, die es zunächst einmal zusammenzuhalten galt, und oft fragte mich Georg, wie wir das schaffen sollten, jemals einen wie einen Herzog oder einen Kluge hervorzubringen aus unseren Reihen, und ob es mir nicht scheine als sei all unsere Schaffenskraft in unseren jungen Jahren schon aufs Äußerste angespannt und zur Erschöpfung befasst nur mit dem Draußenhalten der Dummheit aus wenigstens unseren eigenen Leben. Und daß es nicht leichter werde mit vergehender Zeit haben wir oft besprochen, in den Lobbys verstaubender Kinos, die nie wieder renoviert werden würden, oder zu Fuß am Ufer der Donau, als wir, Jahr um Jahr immer deutlicher, einzusehen gezwungen waren, wie schwer es ist, auch nur die geringste Kleinigkeit zwischen Menschen zu koordinieren, wie alles Charisma und aller Humor und aller Mut versinken muß im bloßen Zusammenhalten von ein paar klugen Leuten, die man braucht, um irgend etwas, das über die einfachsten monomanischen Nachtaktivitäten, das Schreiben eines Textes oder eines Lieds etwa, hinausgeht, je ins Werk zu setzen. Ylvie andererseits war immer frei von solchen Aufgaben für eingebildete Titanen: Der Gedanke, daß sie die Erbin einer Kultur sein könnte, belustigte sie bestenfalls, alles, was ihr zugelost worden war, so schien es ihr und so war es uns auch sofort plausibel, war das Einswerden mit einer Tradition ohne richtigen Namen, das Hineinwachsen in eine Rolle, die sie vielleicht bei einer Großtante bemerkt und gleich als die ihre selbstverständlich erkannt und übernommen hatte: Ylvie musste nichts tun als sich in einer großen, über die Zeiten verteilte Kommunität stranger Frauen einzufinden. Mit dreiundzwanzig war sie, für uns schon erkennbar, für sie selbst noch nicht ganz, bei sich; wenn sie einen Wald durchquerte fürchtete sich die Dunkelheit vor ihr, Gräser gaben ihr die Hand, das verästelte vielstimmige Vielfach-V der Wildgänse folgte ihr in den Herbstwochen als liefere das Universum Stimmungen für ihren Auftritt, und daß sie immer noch einen weichen Moment horchte vor einer Antwort, wenn einer sie ansprach, und dann eine Antwort gab, die einen weichen Moment klüger war als man selbst, wurde von Georg und mir nur als weiteres sicheres Zeichen ihres nicht ganz geheuren Inverbindungstehens mit einer uns unzugänglichen, von alle unserer Eitelkeit ganz freien, anderen Geisteswelt gedeutet. Das war zuerst nicht leicht zu bemerken, da wir in der Stadt lebten: Allenfalls um halb-fünf Uhr in der Früh auf einem müden, verschwitzten und ernüchternd-kühlen Rückweg vom Sandwerder kam es vor, Georg und ich trugen die Schleifen lose in der Jackettasche oder effektvoll offen übers aufgeknöpfte Hemd um den Hals, daß sie meine Hand nahm, wortlos und blicklos und federleicht-dreifingring und nur bis zu den Stufen des Bahnhofs, und dann losließ und meinen ganzen Sommer füllte mit Abenden am offenen Fenster zum Innenhof, an denen ich an Ylvies Gänsebegleitung im Herbst denken konnte und das Vorbeistreifen von Taft an meinen Fingerkuppen und wenig sonst. Im Nachhinein weiß ich nicht, wie ich von den Gänsen gewusst haben soll zu diesem Zeitpunkt, aber ich dachte dort am Fenster wirklich schon an ihre lautstarke hohe Abendhimmel-Gänse-Eskorte bei unseren Begegnungen in späteren Herbsten. Seit ungefähr dieser Zeit aber ist mir immer und bis heute so gewesen, als sorge sich Ylvie aus der Ferne um mich, als versorge sie mich, als Verbindung zu einem Teil der Welt, auf den ich ohne sie nie Zugriff bekommen hätte und ohne ihre ferne Schutzherrschaft weiterhin keinen Zugriff hätte, den Klang gefrorenen Grases unter meinen Sohlen, die Einheit mit einem Postrock-Publikum, die Geborgenheit in den Nebeln und die verächtlichen Gesten der zwölfjährigen Mädchen. Oft war mir, als nähme ich diese Welt nur durch ihre Vermittlung überhaupt wahr, als erlaube mir nur ihre ferne blasse Flamme daran teilzuhaben, als würde ich abgeschnitten von ihr und in eine Hölle aus Besprechungen, neuen Schuhen und Netflix verstoßen wenn Ylvie je aufhörte an mich zu denken mit einem Rest Zuneigung. Ihre Uniform der späteren Jahre, der schwarze Rollkragenpullover mit dem rätselhaften nadelschmalen Streifen scharlachroten Stoffs, der aus dem Kragen lugt, las ich als Zeichen dieses Verhältnisses von schwarzer Ferne und kaum merklicher Zugewandtheit. Keine dieser doch wahnhaften Wahrheiten wurde je ausgesprochen, zwischen uns nicht, auch zwischen Georg und mir nicht. Wir waren nicht sentimental zueinander. Der Rückweg an jenem Westberliner Morgen führte uns in Georgs Wohnung, weil sie nah war und wir hungrig und auf Rühreier aus und darauf, noch nicht schlafen und noch nicht auseinander zu gehen. Es stand eine Kerze im Fenster und der Lärm der Straße drang herauf, große Diesel, die an der Kreuzung anfuhren, in Georgs fast möbellose Wohnung, wo es nur Bücher gab und ein Bett und einen einzelnen Tisch und einen einzigen Stuhl. Er lebte dort, wie er später erzählen würde, vor allem terminlos: Es war die Zeit in seinem Leben, in der sich die Wochen ausstreckten vor ihm ohne Kalender-Pflichten, er las und schrieb und briet sich Nudeln, schaute über die Dächer und hörte Musik in, wie er mir später immer sagte, einer großen euphorischen erwartungssatten Einsamkeit, die er in seinem Garten vielleicht wiederzufinden hofft seither.