Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Georgs Schwimmbad steht in einer Reihe mit anderen Besinnungs- und Kraftorten in meiner Erinnerung, die mit einigem Bemühen zwar erreichbar, aber doch nicht alltäglich zugänglich sind: Der Aussichtsplatz auf dem Westwallbunker bei Kerbonn, Ouessant erahnbar in der Ferne, die Kostümabteilung des Germanischen Nationalmuseums, die Lobby des Grand Hyatt in Seoul. Eingeschränkt ist die Erreichbarkeit von Georgs Schimmbad vor allem, weil es sich nicht schickt, ein Schwimmbad zu besuchen, ohne dem Freund, dem es gehört, Aufmerksamkeit mitzubringen. Georg allerdings kennt meine Vorliebe für diesen Ort in seinem Haus, und nach seinen Begrüßungen, die eher meine selbstverständliche Anwesenheit anerkennen als einen Überschwang von Freude auszudrücken — der Erzherzog! sagt er, die neu eingetretene Tatsache beschreibend, wenn die Tür sich öffnet — erlaubt er mir gern eine ungestörte Stunde im Schwimmbad, bevor er mich, selbst kein großer Schwimmer und selten anzutreffen in dieser großen Anbauhalle auf der Parkseite seines Hauses, im Garten jenseits der großen Scheiben mit einem Getränk erwartet. Diese Halle aus lasiertem Schichtholz und Glas, mit ihrer Decke aus nachgedunkelten Fichtenbrettern zwischen schwarzen Trägerbalken, mit ihren ungezählten Kugellampen und verschiebbaren Glasfassaden, die im Winter auf eine schneebedeckte Kälte hinausgehen und im Sommer auf die sich wiegende Weite, die hinter Georgs Haus aus seinem Garten ohne Zaun und Hecke in das Hinterland Hessens hineinreicht. Es brummen im Sommer durch die aufgeschobenen Türen die Insekte aus dem Garten herein, und die Geräuschkulisse draußen wird besorgt von den Stimmen der Singvögel und den Knister- und Knackgeräuschen, die entstehen bei ihrer Nahrungssuche in den Rinden, beim Nestbau und beim Verjagen der ruhelos die Baumstämme hinauf- und hinablaufenden Eichhörnchen. Im Winter hingegen herrscht vollkommene Stille im Bad, das Summen der Entfeuchtungstechnik und das unhörbare Geräusch des golden aus Kugeln und Strahlern ins Wasser und auf die warme Keramik herabfallenden Lichts betten die Geräusche des beim Schwimmen bewegten Wassers eher ein in die Winterstille als sie zu stören. Manchmal abends, jedoch nur im Spätherbst und Winter, macht Georg dann, von seinem Platz an der Scheibe in seinen Wohnräumen aus wohl, Edward Ka-Spel oder eine obskure zischende Konkretheit aus der Neuen Musik an, die dann aus den Lautsprechern an der Decke mein Alleinsein im Bad begleitet bis ich heraussteige aus dem Wasser und mich im Halbdunkel in ein großes braunes Frotteetuch wickle. Von den Sommertagen ist mir einer in Erinnerung, an dem wir dann im Schatten auf Georgs Liegestühlen beisammensaßen, er in seiner Gärtnerkluft noch, ich mit einem Baumwollhemd auf der nassen Haut, und meine jüngeren Texte besprachen und die Richtung, die sie zu nehmen schienen für ihn. Er anerkenne, sagte Georg damals, durchaus die fortgesetzte Konzentration auf Orte und Stimmungen, und doch verstünde er meine Zweifel an der Werktauglichkeit, gewissermaßen der Werktauglichkeit, sagte er, solcher unverbundener Fragmente und Kleinformen: Es sei ja kaum von der Hand zu weisen, daß sie auch leichter zu machen seien, am Wochenende, immer so weiter ohne neue Anstrengungen. Und liefere die Entscheidung für die Plotfreiheit nicht zugleich eine bequeme Entschuldigung dafür, als Barde gewissermaßen nicht ernst machen zu müssen und sich um den Erwerb eines Publikums und die damit verbundenen Einschränkungen der Freiheiten weiterhin zu drücken? Andererseits sei die Plotmüdigkeit in unser beider Lesepraxis weiterhin stark und nicht selbstgewählt, schien uns, und wie viel langweiliger sind motivierte und anmaßend autoritär-durchschaute Figuren als die enigmatischen, die zum Reich der unerklärlichten Tatsachen gehören, wie die Erscheinungen des Wetters oder der Erdgeschichte, die wie diese nur ihre Oberflächen exponieren und sich mitteilen auf diesen Oberflächen, aber ein Gelesenwerden als schöne Gegenstände eher ermutigen als eins als psychische Mechanismen nach dem dummen und falschen Modell, das man vom eigenen Geistesuhrwerk hat und das ja doch vor allem aus kaum kohärenten Rechtfertigungen besteht, die wir uns selbst zurechtlegen nach dem affektiven Herumstolpern in der Welt. Die Welt der eigenen Gefühle hingegen erschiene ihm, so Georg an diesem Nachmittag im Schatten der Bäume vor seinem Schwimmbad, in dem das Wasser gleißende Lichtwaben an die dunkle Decke warf, als eine Welt der reinen Tatsachen: ebensowenig zu ignorieren wie äußere Zwänge und nur ebenso langsam und mühsam dem eigenen Wirken zugänglich, einer eigenen Ökonomie folgend, einer Ökonomie der Liebenswürdigkeit, wenn man genau sei, da die Gefühle gelernt und abgeschaut werden könnten nur von uns zugeneigten Anderen. Ich war sehr sicher daß er Recht hatte damit und schwieg einen Moment in Gedanken an meine eigene Schule der Gefühle, und überhörte fast seinen Schluß: Daß also eine Literatur, die aus einem Anspruch auf allgemeine Gültigkeit heraus beim Teilbaren beginne, bei den Ideen und großen Geschichten und welche das individuelle Empfinden, die Zufälle der Stimmungen und Gefühle, als Dekoration zur leichteren Verdaulichkeit behandle, das Eigentliche mit dem Beiwerk gerade verwechsle: Nicht die für den Leser wiedererkennbare, präzise Erwähnung von Moos auf Altstadtpflasterfächern und Beton, und all die Gefühle von Heimat und Kultur, die sich damit verbänden, mache eine Geschichte plastisch, die das eigentliche sei, behauptete Georg und machte eine Geste über das Pflaster seiner Schwimmbadterrasse hinweg, sondern eine Geschichte sei andersherum bestenfalls ein Gerüst nur für das Aufrufen solcher eigentlicher konkreter Wahrheiten der Empfindungswelt. Auch dies schien plausibel angesichts des Repertoires an ganz fremden Welten der Empfindung, die uns gerade als Lesern gut entwickelter Romanliteraturen ja vertraut waren. Das viktorianische England fühlen wir nach, so stark vermittelt sich seine Eigenheit: Die euphorische und verzweifelte Nostalgie am unwiederbringlichen Ende des Zeitalters der Unikate. Es seien ja nicht wirklich die Geschichten von Armut und Ungerechtigkeiten, die uns fesselten an dieser Literatur, sondern die Atmosphäre aus irren und verfrühten Superlativen in schmiedeeiserner Glasarchitektur, experimenteller elektrischer Infrastruktur und beginnendem Bewusstsein für das Ende der Daseinsart von Gegenständen und Leuten, die es nur einmal gibt, die Vorstellung von Emporien und Kuriositätenkabinetten und Museen und geisterhaften Kräften, die sich dem neuen Zugriff der Menschen auf die Welt noch eine Weile zu entziehen vermögen, bis die Kabinette der Kuriositäten und ihre Besucher selbst Kuriositäten werden und langsam verschwinden und mit immer höherem Aufwand noch im kulturellen Bewusstsein gehalten werden können, ganz genauso wie etwa die Welt der lateinischen Sprache, und alles was existiert hat in ihr, nun langsam ersetzt wird durch einen neuen Kanon im Lauf unserer eigenen Lebenszeit. Eine Bö fuhr in die beiden riesenhaften Nordmanntannen, die im Baujahr des Hauses gepflanzt worden sein mussten in der ersten Parkanlage dort oben. Die mächtigen Stämme zitterten, und das Geräusch des Windes in den Nadeln machte für einen Moment jedes Gespräch unmöglich. Ich zog einen Wollpullover über, und wir schauten beide, Georg und ich, über dem Flachdach des Schwimmbads nach Zeichen eines Sommergewitters, das einer so kühlen Bö folgen musste nach den alten Regeln der Sommer in diesen Landstrichen. Es scheine doch, sagte ich, einen Liegestuhl unter das Dach des Freisitzes räumend, zu Georg, daß wir uns, nicht nur was den fast völlig schon abgeschlossenen Prozess des Untergangs der Lateinischen Sprache anginge, in gerade einem solchen Übergang befänden wie dem der viktorianischen Literatur, als die Gegenstände aufhörten Einzelstücke zu sein: dem der Übergabe des Sprechens an die künstlichen Intelligenzen und sprachproduzierenden Organisationsmaschinen, die erst unsere routinierten Sprechakte übernommen hatten und jetzt für uns weiterbrabbeln konnten wie wir gebrabbelt hatten zueinander, zuvor, und die inzwischen wie wir ab und zu einen Sprung machten aus Versehen, der als neuer Gedanke das Brabbeln unterbrach und uns weiterbrachte ohne daß es einen Plan zu dieser Innovation gegeben hätte. Georg — freilich!, sollte das heißen — wies, still, eine Hand ausgestreckt, auf seine Bäume hin, hob die beiden dunklen Tannen auf in meiner Perspektive in seiner Handfläche. Die radikale Diesseitigkeit in diesem Garten, die wir beide wohl von Ylvie gelernt hatten und über Ylvie von einer älteren Tradition, verbot uns jede Verzweiflung über dieses Irrelevantwerden unseres Sprechens, dieses Sich-Verfahrenhabens auf einem toten Seitenarm des Geistesflusses, wo es still geworden war und nur Enten riefen und manchmal ein Bieberrücken sich glucksend bog und wieder tauchte neben dem Dollbord des nun ziellos treibenden Boots. Georg hatte es als erster bemerkt von uns, damals, und ausgesprochen und den konsequentesten Schluss in Form seines Gartendaseins gezogen: Daß das Ende des Verschwindenkönnens, mit dem Auftauchen endloser Speicherbarkeit von allem, einen besonderen Moment markierte, daß die ideelle Welt der zwei Generationen vor diesem Moment für lange, lange Zeit das Koordinaten- und Mythensystem für alles sein würde, daß die Welt verdammt war zu einem ewigen Cosplay das 20. Jahrhunderts also, mit Kommunisten und Humanisten und Faschisten und ihrem immer bedeutungsloser werdenden Reenactment von „Menschheit“, während die künstlichen Intelligenzen und Abstrakta die Fortentwicklung des Denkens übernahmen lange bevor sie das Sprechen gelernt hatten, und freilich erst recht seit sie es konnten. Diese untoten Machtphantasien des 20. Jahrhunderts, daß „man“, daß eine mythische alle umfassende Menschheit, die es nie gegeben hatte und nicht geben konnte, „etwas tun könne“, die Natur verbessern oder doch mindestens unseren Anteil daran, der Natur die Grausamkeit austreiben oder doch zumindest dem Menschengemachten, als gäbe es ein Außen-zur-Natur zu bewohnen, diese Phantasmen gemeinsamer Interessen und kollektiven Handelns von Milliarden, die sich kaum verständigen konnten, lebten weiter in den bedeutungslosen Diskursschleifen der Leute, phantomatischer Nachhall der Moderne, während Georg in den Tiefen seiner Gebüschlandschaften beim Licht einer Laterne ein Käsebrot verzehrte, die Schere im niedergetretenen Gras, und während Ylvie zu Fuß irgendwo im Taunus oder im Hunsrück, Kletten an den Knöcheln, das Land durchmaß, beide Teil der Natur, Teil des Geschehens und nicht der Messias, vom Wind über die Gegenwart getrieben, das Richtige tuend ohne Illusion von Gestaltung, manchmal vielleicht angestemmt für einen Moment gegen die Kraft des Windes, um sich zuzuwenden.

Link | 12. Januar 2023, 2 Uhr 49