Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Vertraute Orte, die ich nie wieder sehen werde: Die Wohnzimmer der Freunde meiner Eltern. Eichenholz, grüne Vorhänge, Teppichböden, kreisrunde Hocker aus Kunstleder und fremdes Lego-Spielzeug unerreichbar auch für die Kinder des Hauses hoch oben auf den Schränken (man verliert ja so leicht Teile). Heimcomputer, später Privatfernsehen, mintgrüne Polos, Gärten. Gerüche, die ich nicht mehr dingfest machen kann, aber wiedererkennen würde.

Meine Wohnung in der Gotlandstraße rottet langsam in diesen Kompost hinein, die mit Headset durchtelefonierten Nächte der fetten Tage, das eine mal, als ich ernstlich krank war und es allein vor dem Fernseher durchstehen musste, mit einer gewissen grimmigen Freude einen hüfthohen Haufen Taschentücher neben dem Sessel auftürmend, den ganzen Tag dieselben Nachrichten der BBC, weil alles andere nicht zu ertragen war, am wenigsten die Stille. Die aufgeregten Stunden nach einer lieben Mail und die finstersten überhaupt nach einem verdorbenen Abend. Besuch, der erst einmal über den Inhalt meines Kühlschranks spottete und trotzdem bekocht zu werden erwartete, Besuch, der einfach tagelang mit vor dem Rechner lümmelte und Operation Flashpoint spielte, Besuch mit Liebeskummer und Mobiltelefon (Es war eine Ein-Zimmer-Wohnung). Abende am offenen Fenster, der Innenhof wieder mit einem nur aktiv verlorenen Geruch. Der tausendmal besuchte Plus-Supermarkt, den es ja immer noch gibt. Das endgültige Ende des letzten Stuhls und der Beschluß, den Tisch deswegen auch gleich loszuwerden. Durchgearbeitete Nächte mit Büchern oder Quellcode und immer Musik (am Fußboden). Am Ende der Fluchtreflex, der Abgrund aus IKEA-Möbeln, die kleinen Tiere in den Dielen, das zickige Telefon, das sichtbare, aber nicht einmal bohemienhafte biedere Elend des Ortes, das deutliche Gefühl: Ich bin keiner mehr, der hier wohnen sollte. Der letzte Abend dort, das Warten auf den Mann, der die Leiter nach Charlottenburg fahren würde: Nur ich, die Leiter, ein Block, ein Kugelschreiber und das iPod, zig beschriebene Seiten, es war einer der hellsten Momente des letzten Jahres, einer von denen, in denen die Lage, die sich längst verändert hat, endlich klar erkennbar wird und man förmlich spüren kann, wie sich die Bedingungen für zukünftiges Handeln verschieben, durch den Raum gleiten und sich neu arrangieren, verblüffend klar stehen sie dann da: Das geht ab sofort, das geht nicht mehr, dieses wird wichtig, jenes kannst Du vergessen.

Link | 17. Oktober 2004, 14 Uhr 52