Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Mein Dasein als Geist: Meine Anwesenheit in einer HTC Vive-Welt ist durch und durch geisterhaft: Die Bewegung ohne Schritte, die Unberührbarkeit der Materie. Hier ist eine Bank, aber wenn ich mich auf sie setzen will, falle ich. Die Textur dieser Vase kann ich nicht spüren. Dieser NPC nimmt keine Notiz von mir, ich kann mich ihm nähern, näher als ich je einem fremden Menschen kommen könnte, Details seiner Kleidung betrachten, was er ungerührt geschehen lässt. Ich kann hinter ihm stehen, durch ihn hindurchfassen (ein kalter Hauch für ihn).

Alle VR-Umgebungen, die nicht vollkommen und eindeutig abstrakt gestaltet sind, sind so: die wesentliche, alles Inhaltliche überstrahlende Erfahrung ist die eigenen Geisterhaftigkeit. Als hätte die Gespensterliteratur vorhergesehen, wie es sein würde, körperlos diese Räume zu bespuken.

Zugleich ist VR körperlicher als klassische Spiele: Der Schrecken, plötzlich nah vor einer zwei Meter großen Figur in schwerer Rüstung zu stehen, ist wuchtiger als alles, was Spiele bisher erzeugen konnten. Begegnungen mit NPCs sind äußerst unangenehm, auch weil nie klar ist, welche Geisterregeln gerade gelten: Nimmt mich die Figur wahr? Bewegt sie sich? Kann sie mich verletzen, und wo ist ihre Kontaktoberfläche? Kann sie sich schnell bewegen, während ich nur einen Schritt machen kann in jede Richtung? Kann sie mehr als drei gescriptete Sätze sagen? Sagt sie vielleicht doch etwas Überraschendes, mit einem Lächeln, das verdächtig ungescriptet wirkt?

Ich bezweifle, ob je ein gutes Spiel mit nicht-abstrakter Grafik möglich sein wird, in dem der Spieler nicht ausdrücklich einen Geist spielt: VR, so scheint es, ist für abstrakte Lichtwelten und Spuksimulatoren. Und was wir den Ich-Spielfiguren in klassischen Spielen an Action zumuteten, ist zu viel in VR, terrorisiert unsere Körper, hält alle Fluchtimpulse daueraktiv. Das Spiel, auf das ich warte, nimmt mich ernst als Geist: Lässt mich rastlos forschen in weitverzweigten Höhlen und auf Brücken in menschenleeren Landschaften, nimmt ernst, daß ich mich verletzlich fühle in einem Körper, den ich nicht habe, und simuliert niemals optisch, was somatisch nicht zu simulieren ist: Abstürze, physische Gegenstände, NPC-Körper aus der Nähe. Zwei schwebende Augen in einer unberührbaren Welt, zwei Hände aus Rauch.

Link | 16. Juli 2017, 17 Uhr 34 | Kommentare (1)


Blick aus dem Flugzeug, Blick von den Mauern der Ruine ins Land. Fahrt zwischen den Städten, schläfrige Konzentration, gelbe Ortsnamen verschlungen von schwellenden Büschen, leere gepflasterte Plätze, Tafeln mit Gemeindewappen. Das Restaurant Hellas und drei geparkte Wagen in der Sonne. Geschlossene hölzerne Tore mit grünen Schuppen, zwei Katzen auf der Schwelle bei einem gußeisernen Stiefelabtreter.

Unmittelbarkeit und Unschuld: keine Unaufrichtigkeit in der Seele in einer dunklen Schöpfung. (Voraussetzung: eine Seele.)

Blick von den Mauern ins Land: Möglichkeit der Unschuld, Anschein des Friedens.

(Eine Burg aber wächst nicht von selbst auf den Felsen, sie muß dem Land abgetrotzt werden, den Feinden, und schwerer, den Eigenen und der Schwäche. Es vergeht leicht ein Leben über der Aufgabe.)

Link | 8. Juli 2017, 19 Uhr 43 | Kommentare (1)


Die verwüstete Landschaft: Die wichtigste Frage bleibt, ob die Kunst dem Vorankommen dient oder das Vorankommen der Kunst. Macht uns unsere Wachheit zu erfolgreicheren Teilnehmern an der Welt der Erwachsenen, oder nehmen wir an der Welt der Erwachsenen teil um der Freiräume willen, in denen wir uns dann mit der Kehrseite der Dinge befassen können?

Wir haben es uns nicht ausgesucht: Das obsessive Interesse am Irrationalen, an der Einlassung mit der Realität einschließlich der parts maudites: Das immer manische Empfinden des Wirklichen, die Versenkung, die Ehrlichkeit, die Souveränität, die Dunkelheit, die ewige Fremdheit in der Welt der Erwachsenen.

Kunst heißt dann: Apokalypse und die Diagnose der Verwüstung, eine gescheiterte Kultur. In der Welt der Erwachsenen gibt Hans Rosling TED-Talks, und wir wissen: Alles wird besser, fitter, happier, more productive, comfortable. Und wir wissen: Das alles ist wahr, wir werden nicht belogen. Und doch fühlen wir uns verloren in der verwüsteten Landschaft. Wir wissen: Der geborstene Beton und der verbogene Stahl unserer Träume sind Metaphern für einen empirisch nicht festzumachenden Zustand, die rottende Stadt. Unsere wirklichen, vollkommen unversehrten Gebäude glänzen und verbrennen lautlos in der Dauer der Verwüstung.

Die rattenfängerischen Narrative: Wir verabscheuen die Erzählungen, die den Leuten weismachen, sie kämen zu kurz, der Fortschritt schulde ihnen zusätzliche Rechte und vor allem Geld, ihre Herkunft schulde ihnen, ihre Ehrlichkeit begründe Ansprüche, ihre Schlichtheit, ihr Abitur, ihre Schwäche, ihre Tradition, ihre Hautfarbe. Wir fürchten diese Narrative, die konstruiert sind, um Gefolgschaften von Zukurzgekommenen zu sammeln, die jeden, der nicht teilnimmt an ihrem Marsch, mit dem Unterdrücker zu verwechseln bereit sind. Der Antikapitalismus der rattenfängerischen Erzählungen ist uns fremder als sogar das Kapital: Lieber verschwenden wir unsere Zeit mit Erfolg als uns dem Gejammer anzuschließen, oder, noch widerwärtiger, dem Gejammer im Namen dritter.

Die Erwachsenen haben in unserem Alter Bäuche und Bürstenhaarschnitte und führen in der Bahn Telefonate, in denen sie jüngeren Kollegen erklären, was man ertragen können muß. Wir gehören nicht nicht dazu als Jugendliche (es ist möglich, daß wir überhaupt nie Jugendliche waren, anders als die Erwachsenen), wir gehören nicht dazu: wie die Priester und die Irren.

Englands Hidden Reverse: Spätestens mit dem Erscheinen des Industrial-Untergrunds ist die Diagnose der Verwüstung kulturell festgemacht. Aber natürlich ist sie vorher da, bei Jünger auf jeden Fall, bei Bataille, bei Syberberg, bei Nietzsche.
David Tibet spricht in seinen frühen Tagen von der Verwüstung, von seiner Hoffnung, außerhalb des Westens Möglichkeiten zu finden, authentisch wahrzunehmen und am Leben zu sein – man vermutet: das ist der fühlbare Totpunkt Anfang der 1980er Jahre, der Moment, an dem die Moderne wirklich zum Stillstand kam, sich ausgelaufen hatte und nur eine Hülle aus Fortschrittspathos zurückließ, die kein denkender Mensch mehr ernst nehmen konnte. Tibets Weg nach Innen seither: Ist das nur sein persönliches Reifen oder eben doch die Konsequenz, der Weg, der in der verwüsteten Landschaft begehbar bleibt?

Das Bedürfnis, draußen zu sitzen und Windräder zu betrachten: Ist also das Bedürfnis, draußen zu sitzen und Windräder zu betrachten, bis die Sonne untergeht und die Erdbeeren aufgegessen sind, als Krankheit zu werten oder als Zweck der ganzen Lebensübung? Wie ist es mit dem Bahnhof von Antwerpen und dem Midland Hotel, die beide längst ersetzt sind durch entübelte, von ihrer infernalen Vergangenheit befreite, freundliche und bedeutungslose Versionen ihrer selbst: Wenn wir sie aufsuchen und ein Schwindel uns befällt, und wir die rußigen Ruinen erscheinen sehen hinter den Starbucks-Dekorationselementen: Sind wir beschädigte Wahrnehmer oder intakte?

Mit welcher Vergangenheit stehen wir in Verbindung? Ist es eine schamanische Tradition, eine Erinnerung an die Möglichkeiten der Aristokratie, oder das Trauma der Kriege? (Sind wir, mit anderen Worten, die letzten Traumatisierten, weil wir die europäische Kunst des 20. Jahrhunderts kennengelernt haben und bei ihrer Wahrnehmung durch das Eis der politischen Mythen unserer Staaten – die vom Triumph des Fortschritts handeln – brachen?)

Genügt es uns, auf Konzerte zu gehen? Müssten wir nicht auch ein Haus im Wald besitzen, mit Büchern handeln? Nach Moskau verschwinden? Oder eben ins Hinterland des Landkreises Biberach – Federseemoor, Wilflingen, Donauschotter bei Riedlingen; Wind in den Streuobstwiesen, in denen das Schwarzpulver verschwand?

Und ist es weiterhin richtig, zu schweigen und in der Welt der Erwachsenen zu bleiben?
Wenige sind es wert, daß man ihnen widerspricht, daran ist nicht zu rütteln, aber was ist mit denen, denen man zustimmen könnte?

[Getriebe einer neuen Maschinenwelt / Negative Acéphale-Theologie]

Link | 2. Juli 2017, 17 Uhr 32