Vigilien

is there any any? nowhere known some?

(1) Mein kanariengelber kleiner Miet-VW war untermotorisiert für die Serpentinenstraße, aber ich war dankbar für sein schmales Profil, wenn mich die Lieferwagen der Einheimischen bergauf an den unwahrscheinlichsten Stellen überholten. Auf der Rückbank rutschte mein Seesack hin- und her, und es war so heiß, daß mir die kaum zwei Tage alte Erinnerung an die Überfahrtnacht, mit zwei erschöpften Wachen in Merino-Unterwäsche und Ölzeug, schon übertrieben und irreal erschien. Aber die Persol hatte noch Salzschlieren, und mein rechter Bizeps schmerzte, wo ich gegen das U-Profil am Niedergang gefallen war.

Ich hatte Durst, aber keine Lust auf das lauwarme Wasser in der Flasche unter dem Beifahrersitz. Zwanzig Minuten vielleicht noch zum Quellwasser im Garten, und später heute: high resolution-Gebubbel, Hefe und Säure und ein frostiger Zieher hinter den Augen, die klugen Frauen würden sich gekümmert haben. Eine saubere Leinenhose, ein blaues Jackett und weiche braune Slipper würden in einem Koffer aus Deutschland auf meinem Bett liegen. Die klugen Frauen würden beide kluge asymmetrische Kleider tragen, wenn ich mit nassen Haaren auf die Terrasse käme: So, genau so würde es sein, wenn ich den kleinen VW up erst sicher auf die elastischen trockenen Nadeln zwischen den Bäumen gestellt hätte.

(2) Ein sicheres Zeichen, daß jemand Teil der Eliten ist, war einmal das Nachdenken im Modus der Herrschaft: die Sorge um das große Ganze. Heute ist das anders, das Herrschaftsdenken ist überall angekommen.

Stroszek twittert nicht: Wenn Bruno Stroszek in Freiheit geht, dann macht er sich keinen Gedanken, wochen- und monatelang keinen einzigen Gedanken darüber, wie das Volk regiert werden müsste, welches Verhalten ermutigt, welches bestraft werden sollte. Stroszek macht keine Gesetze, und es fiele ihm nicht ein, sich die Gedanken des Leviathan zu machen. Er ist froh, wenn er in Ruhe gelassen wird, mehr noch, er ist froh, wenn er nichts falsch macht, ohne es zu merken (die Welt der Herrschaft ist ihm so fremd, daß er nicht immer versteht, was sie von ihm will und daß er dies oder jenes nicht tun soll).

Niemand von uns kann sich diese Form von Freiheit, die Freiheit des Bruno Stroszek noch vorstellen: Nicht die Welt regieren zu müssen. Eine Kombination von technologischer Zugänglichkeit des Herrschaftsdiskurses und über Dekaden betriebene politische Arbeit am Bewusstsein, an der Standardausstattung an Ideen und Interessen, hat uns alle zu Herrschern ohne Herrschaft gemacht.

Im Modus der Herrschaft — was ist falsch für die Untertanen, was richtig? — nachdenken zu müssen, ist eine enorme Last selbstverständlich, die meisten von uns wissen kaum, was für uns selbst richtig und falsch ist, und wir reagieren in Mustern. Manche wechseln performativ die Seite und bestehen auf ihr Untertanentum: Lasst mich in Ruhe mit dem Herrschensollen, seht Ihr nicht, daß ich ein Beherrschter bin, daß die Beherrschten-Identität mich ganz erfüllt und legitimiert? Manche schlagen sich auf die sichere Seite der Macht: Was immer grade gültig und konsensfähig ist im Umfeld wird zur Doktrin des eigenen Vorschlags von möglicgst totaler Herrschaftsausübung. Und schließlich gibt es die Versuche, über Dingen der Herrschaft zu stehen und weise zu werden, meistens auf eine fernöstliche, den europäischen Begriffen schwer zugängliche, möglichst verwaschene Form. Ganz im Moment leben: nur den Schatten sehen und zum Leviathan nicht aufschauen.

Ein echter Ausbruch, würde man ihn versuchen wollen, wäre ein Stroszek-Ausbruch: Wirklich mit dem machtlosen Herrschaftsdenken auch das schlechte Gewissen abgeben, die eigene Machtlosigkeit annehmen, die Entsprechung zwischen eigenem Einfluß auf das Große Ganze und intellektuellem Weltangang wiederherstellen.

Link | 28. Juni 2020, 1 Uhr 28