Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Charlotte hat ein Buch geschrieben. Ich liebe Charlotte sehr, deswegen habe ich es bestellt und innert 24 Stunden nach Ankunft gelesen, mit einer gewissen Sorge: Die Konkurrenz in meinem Bücherregal ist ungleich härter als im Fernsehen, und bei der Beurteilung von Büchern bin ich rücksichtslos. Wer ein Buch schreibt, das ich lese, muß mich kennen, wir müssen zwei von einer Art sein, der Autor und ich, und wenn er mich verkennt oder verwechselt, werde ich wütend. Wenn sich jemand traut, ein Buch zu machen, gibt es keinen Vorschuß, nicht mal für Charlotte. So bin ich.

Und Feuchtgebiete ist leider fürchterlich pädagogisch.

Das Buch unterstellt mir, ein hygienevernarrter Sklave der amerikanischen Tamponindustrie oder dergleichen zu sein. Es führt mir Körperausflüsse vor, lückenlos und pedantisch alle, und erwartet, daß ich mich ekle und wundere und, qua Exposition und Komik, lerne, daß man sich gar nicht ekeln muß. Der Protagonistin ostentative, aber verzweifelte Liberalität spielt sich zudem vor einer grundkaputten Kulisse ab, welche mahnt: Laß dich nicht kriegen von den Wahnsinnigen, den gepflegten Gretchen, suizidalen Müttern und verschlossenen Vätern, vom doppelten Terror des implodierten Konzepts bürgerliche Familie, von der großen Maschine Angst.

Nun, kein Widersprich, nur: Ich bin zu alt dafür. Wie bei vielen Büchern, die behaupten, daß ein zerstörerischer Normdruck ausgeübt werde auf die Menschen, habe ich inzwischen den schulterzuckenden Verdacht: Ich weiß ja nicht, auf mich nicht. Vielleicht bin ich privilegiert, nur: woher? Arrogant vermute ich: Es hilft vielmehr, einfach nicht zuzuhören, dem ganzen sonderbaren Druckdiskurs, ganz gleich welcher Seite. Man stellt dann fest, daß man tatsächlich tun und lassen kann, was man will; der Trick ist, nicht zuzuhören, der Druck ist die Wahrnehmung von Druck. Ich bin zu alt für die Ausweitung der Kampfzone, ich bin zu alt für Feuchtgebiete: Ich bin ein satter alter Sack, der entweder nicht zugibt, wie angstbestimmt er immer noch lebt — oder eben wirklich Privilegien genießt: Interessant scheint ihm die Frage, wie man leben kann, da will er Vorschläge hören, und nicht, wie man leben darf, das scheint ihm Zeitverschwendung zu sein.

Feuchtgebiete ist ein Buch für Bravo-Teenager und Ex-Bravo-Teenager in den Feuerstürmen der Körperpolitik; es ist leider keins für mich. Sorry, Charlotte. Ehrenwert und lustig, aber ich bin fast dreissig und glaube nicht mehr an die Aufklärbarkeit von Bravo-Lesern durch Bewusstmachung. An Selbstaufklärung aus Begeisterung, daran glaube ich noch. Schreib ein Buch für mich nächstes mal, große, wunderbare Charlotte Roche.

Link | 1. März 2008, 13 Uhr 55 | Kommentare (7)


7 Comments


weniger druck, mehr privileg rührt daher:
du bist ein mann.
das ist etwas, wofür du gott bei allem atheismus und bei aller niedrigeren lebenserwartung jeden morgen unter heissen tränen danken kannst.

Kommentar by person | 18:07




Ich mache das, bewusst, ohne Quatsch, seit ich etwa 6 bin. Ich kann mich glasklar an den Moment erinnern, als ich damit angefangen habe, und an den Wortlaut, mit dem ich beschlossen habe, daß es besser ist, ein Junge zu sein. (Ich war sagenhaft verliebt, konnte aber noch nicht recht unterscheiden zwischen Habenwollen und Seinwollen. Ich fand Mädchen einfach insgesamt viel toller. Irgendwann fiel es mir dann auf: Jungs haben es besser. All die Vorteile, und am Ende dürfen sie die Mädchen heiraten. Es war ein erster Sündenfall, ich ersetzte zum ersten mal wolkige Verehrung durch den erbarmungslosen Mechanismus Besitz in meinem Geiste. Ach, eine traurige, unvermeidliche Geschichte. Seit 22 Jahren sprechen wir nicht miteinander. Man hat mir allerdings, tröstend, zugetragen, daß sie mich, ebenfalls, immer noch liebt.)

Im Ernst: Ich hatte meinen Charlotte-Beitrag hier zweimal in gegenderten Formulierungen stehen und habe mein „aber ich bin ja auch ein Kerl“ zweimal wieder rausgenommen.

Ich hätte es so viel lieber, wenn das keine Rolle spielen würde. Wenn das kein Mädchenbuch wäre und mein Zweifel kein Männerzweifel.

Ich habe Charlottes Charlottigkeit nie als einen spezifisch weiblichen Vorschlag an die Welt verstanden. Das war einfach so richtig, das hing in keiner Weise davon ab, daß sie eine Frau war. Und ich habe deshalb Feuchtgebiete, rosa Umschlag und Klappentext und dergleichen Verlagsmarketing-Unfug hin oder her, nicht als Frauenbuch lesen wollen. Das wäre mir ein zu billiges Identifikationsangebot gewesen: qua Geschlecht. Ich hätte das dann auch bloß noch von außen lesen können, als Teil der Frauenliteratur, mit einem zoologischen Interesse. Niemals! dachte ich, sowas macht Charlotte auch nicht. Wenn eine weiß, daß wir aufhören müssen mit diesem Scheiß, dann doch sicher sie.

Ja, es hilft, ein Mann zu sein. Es hilft allerdings noch viel mehr, einmal einsam und einmal nicht mehr einsam gewesen zu sein — ein Privileg, das geschlechtsunabhängig verteilt wird und möglicherweise sehr, sehr selten ist. Vielleicht ist es eher das, wenn ich so drüber nachdenke. (Feuchtgebiete ist ja, hinter der pädagogischen Ekelblödelei, vor allen Dingen ein Einsamkeitsbuch, oder?)

Kommentar by spalanzani | 2:19




Habe das Buch auch gerade aus Langeweile während eines Magen-Darm-Infekts weggelesen. Mit sehr ähnlichen Gefühlen. Es soll ja ein feministisches Buch sein. Ich finde, es ist aber gerade ein furchtbar unfeministisches Buch, weil die Protagonistin ja ihr ganzes Scheidungskind-Elend aufs weiteste ausbreitet und immer wieder aufs Neue repetiert, dass ein Mann im Bett besser ist als niemand im Bett. Und zum Schluss wirft sie sich vor lauter Einsamkeit dem Krankenpfleger in die Arme. Die Protagonistin scheint nicht zu verstehen, dass ihr ganzes Schnoddriges „Meinekörpersäftesindsuper“, das sie ja nahezu als Lebenskonzept verfolgt“ sie möglicherweise ins Krankenhaus gebracht hat. Hier propagiert jemand einen bestimmten Lebensstil, weil er die anderen alle doof findet, und leidet doch letztlich genau unter diesem Lebensstil.

Das Buch ist trotzdem amüsant geschrieben, Charlotte Roche schreibt forsch und witzig. Aber man sollte nicht davon ausgehen, dass das Buch eine „Message“ hat.

Kommentar by Jochen | 12:23




Es hinzunehmen, dass das Buch keine Message hat, fiele vielleicht leichter, zöge die Autorin nicht von Interview zu Talkshow und von Talkshow zu Interview, um die Message rüberzubringen. ;0)

Ich frag mich ja manchmal, wie es gewesen wäre, hätte es das Fernsehen schon zu Olims Zeiten gegeben. Was hätte Eichendorff höchstselbst zu seinem „Taugenichts“ zum besten gegeben, hätte er bei Beckmann, Kerner oder Illner dazu Rede und Antwort stehen müssen?

Mer waases net, mer stickt net drin…

Kommentar by mark793 | 15:09




Jochen: Widerspruch! Frau Roche weiß sehr genau, was sie tut. Ich bin weit entfernt davon, ihr zu unterstellen, daß sie da nur die wilde Guck-mal-was-ich-mich-traue-Nummer macht.

Nein, sie hat da schon was vor. Man kann ja auch gar nicht überlesen, wie fertig ihre Helen ist — spätestens die Avocadogeschichte ist nicht mehr einfach irgendwie krass. Obacht: Die Figur hat sich sterilisieren lassen, aus sehr neurotischen Gründen, und gebiert jetzt Avocadokerne. Man muß ja keine Frau sein, um die Verzweiflung wahrzunehmen, die da hineingeplant wurde in diese Helen.

Das Problem ist nicht, daß das leerer Vorlese-Skandal-Pop wäre. Das Problem ist, daß es eine Klage ist, statt ein Entwurf zu sein — das könnte sie! — und zumindest in meinem (wie gesagt allerdings möglicherweise privilegierten) Weltbild nicht einmal eine besonders zwingende Klage.

Mark: I’m a doctor today / I’m curing viewers by the thousands

Kommentar by spalanzani | 15:20




ha, ich habe auch mit vier jahren beschlossen, dass ich ein junge sein will, weil es die besser haben. aber das hat nicht funktioniert, na dann eben frauenperformance jetzt. wobei ja „mann“ nicht wirklich das gegenteil von „frau“ ist.

Kommentar by person | 15:27




Nein? Nanu? Wovon ist „Mann“ denn dann das Gegenteil? (Etwas sehr Albernes in mir will grade „Maus“ sagen, aber das muß schweigen, das Alberne, das ist nur eine Ausgeburt meiner heutigen Zu-Grütze-Gekochtheit.)

Kommentar by spalanzani | 0:17