Der Lorbeersprung: Ich schreite, vergnügt, mit übergeworfener Jacke und offenbar frisch und munter aussehend, zum Bois de Roscouré hinunter. Mir entgegen kommt ein schwitzender Mensch, sicher etwas mehr als fünfzig Jahre alt; er trägt einen Rasentrimmer und einen schwarzen Pferdeschwanz mit grauer Beimischung. Er ruft mir fröhlich etwas zu, das ich nicht verstehe. Ich entschuldige mich, er wiederholt, jetzt stehen wir voreinander; an seiner Nase hängt ein Wassertropfen. Er sieht meinen etwas hilflosen Blick und fragt, nicht mehr in Dialekt oder keltischer Fremdsprache, ob ich nicht von hier sei. Nein, sage ich, ich sei Deutscher, und manchmal verstünde ich nicht. Ah, sagt er, und sagt auf Französisch, das ich diesmal verstehe, daß er vor zwei Stunden genau so frisch und munter wie ich diesen Weg hinuntergegangen sei, und jetzt, sagt er, solle ich ihn mir einmal ansehen, wie er jetzt aussehe! Vous avez travaillé?! frage ich und zeige auf den Rasentrimmer. Aber nein! sagt er, und nestelt eine Zigarettenpackung aus seiner Gürteltasche. Sie enthält eine zur Unkenntlichkeit verrostete Münze, die er mir zeigt, die er mich aber nicht anfassen lässt (mit einer kleinen schnellen Bewegung weicht er meinen Fingern aus: Sein Schatz!) Ich verstehe, daß der Rasentrimmer kein Rasentrimmer und der Schweiß Regenwasser ist, das im Wald, auch Stunden nach dem Regen, immer noch überall von den Bäumen rinnt. Manchmal, sagt er, finde er Pfennige. Immer noch?! frage ich. Ja, manchmal finde er sogar Pfennige mit Adolf drauf. Ich hebe entschuldigend die Schultern: Oje. Er finde auch Euros, sagt er, aber die taugten nichts. Die Pfennige mit Adolf seien aus hervorragendem Stahl, die Euros zerfielen hingegen schon. Ob ich denn da unten wohnte, fragt er und zeigt über die Schulter auf das letzte Haus mit Fremdenzimmern, und ich antworte, nein, und daß ich vielmehr spazierenginge. Prenez pas les chemins petites rät er mir, auf meine Schuhe blickend, und erklärt, selbst seine Gummistiefel seien voll Wasser und es sei sehr schmutzig im Wald. Das mit dem Metalldetektor sei nämlich gut für seinen, sagt er im Weitergehen und zeigt auf seinen Ischias. Wir winken uns zu, dann gehe ich in den Wald hinein und bleibe wie mir geraten auf dem großen Weg, der eingefasst wird von moosigen Steinwällen. Das Nieselwetter der letzten drei Tage hat Efeu und Farne tiefer grün gefärbt als aufnehmbar ist; es ist ein durch und durch keltischer Ort, und da auch der Schatzsucher weg ist, bin ich ganz allein. (Es gibt, das ist klar, nur einen Schatzsucher, und er hat den Wald verlassen.)

Der Wald reicht direkt bis an den Küstenfluß l’Odet. Ein paar Segelyachten ankern draußen auf dem stillen Wasser. Von einer legt ein schwarzes Schlauchboot ab und hält mit brummendem Motor nach rechts, wo ich St. Marine vermute und vorher die Brücke. Zwei Stunden liege ich unter dem grauen Himmel und einer unbeweglichen Eiche. Der lagunenhafte Fluß teilt sich direkt vor meinem Beobachtungsposten: Ein Arm, links, etwa von wo ich komme, ist fast verlassen, geradeaus liegen mehr Boote. Einmal fährt vorn ein Touristen-Herumgondelschiff vorbei, hinein in den breiten Hauptarm. Ein Lautsprecher sagt „Combrit“ und noch etwas, ich ergänze: Da links, am Ende dieses jetzt bei Ebbe fast trockenen Arms, liegt Combrit.

Auf dem Rückweg mache ich halt an einem vollkommen reglosen Weizenfeld. Erst nach Minuten (Minuten sind lang) gewöhnen sich meine Augen an die schwüle Unbewegtheit, und ich entdecke die unzähligen schwarzen Punkte, die über dem Korn flimmern: Winzige Insekten.

* * *

Tags darauf schaue ich auf die Karte und verstehe, wie die Stellen, die ich kenne, zusammenhängen. Ich beschließe den Versuch, noch einmal zu meinem Aussichtspunkt am Wasser zu gehen, diesmal jedoch nicht über den Weg durch den Wald, sondern vom Ende des Combrit-Arms des Flusses her, am Wasser entlang, vielleicht am bei Ebbe trockenen Rand des Flußbetts. Tatsächlich finde ich den Küstenfluß vom Dorf aus schnell: Ich durchquere ein Wohngebiet mit kleinen Zäunen, kleinen Hunden und einer Population von Kindern, bei denen der Besitz, nicht aber der Gebrauch von kleinen Trampolinkäfigen sehr in Mode ist. Von dort finde ich einen schmalen Weg hinab in den Wald. Sehr bald stößt er auf einen bei Ebbe trockengefallenen Flußarm. Das Ufer ist vor langer Zeit mit niedrigen, inzwischen überwucherten und an manchen Stellen von den Eichen gesprengten Steinmauern befestigt worden. Direkt oberhalb der Mauer kann man auf einem fast nicht zu erkennenden Pfad die Küstenlinie entlang gehen. Immer wieder biegt der Pfad allerdings in den Wald hinein ab, oft verliert er sich fast. Als es gar nicht mehr weiterzugehen scheint, gehe ich auf gut Glück einen kleinen Hang hinauf, an nassen Wurzeln mich vorwärtsziehend, und lande, freudig überrascht, auf einem richtigen Weg, in einer hohlen Gasse, die ebenfalls von Combrit her zum Wasser führen muß — nur um gleich darauf festzustellen, daß sie einige Meter weiter abrupt in einem riesigen Lorbeerbusch endet.

Bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß es zwei Büsche sind, über dem Weg zusammengewachsen. Ich ziehe also die Wachsjacke an, stecke die Kamera ein, und gehe kurzerhand hindurch, durch das Lorbeerbuschtor. Auf der anderen Seite des Lorbeerbuschs war lange niemand. Der Pfad ist kaum noch zu erkennen, immer wieder verliert er sich zwischen mehr Lorbeer, Farnen, Gräsern oder umgestürzten Bäumen. Eine Quelle finde ich, in Stein eingefasst und mit einem flachen Bassin nutzbar gemacht, wie ich gestern im Bois de Roscouré schon welche gesehen habe, dort, für die Besucher, mit Schildern, auf denen geheimnisvolle Namen stehen. Diese Quelle hier ist moosbewachsen, namenlos, vergessen und sehr keltisch. Ohne die Jacke wäre kein Durchkommen mehr, manche dieser Küstenbewohner sind dornig und versuchen, mich hineinzuziehen in den Wald. Einmal bin ich unvorsichtig und rutsche beim Überklettern eines entwurzelten Baumes aus. Na schön, eine Hose schmutzig und ein Knie aufgeschürft: Das ist es wohl wert. Weit kann es nicht mehr sein bis zum Bois, aber der Pfad ist kaum noch wahrnehmbar — bis schließlich zwei an Land gezogene Boote auftauchen und der Weg geradezu gepflegt wirkt. Dann erscheint ein kleiner Pavillon. Der Weg macht einen Schlenker, einige Meter landeinwärts, auf einen Hügel zu, der frei im grau blendenden Licht liegt, eine große Wiese mit hohem Gras und einem einzigen Baum, und dahinter: Ein Schloß, alle Fenster abgedeckt. Ich halte mich ganz am Rand der Wiese, zum Wasser hin, und als ich sie halb durchquert und das Haus schon im Rücken habe, werde ich, unverständlich, angerufen. Ich drehe mich um und sehe einen anderen Spaziergänger mit einem Hund. Der Hund läuft scharf auf mich zu, eine Schockwelle im Gras hinterlassend: Ah, der Mann ruft seinen Hund zurück. Ich drehe mich um und gehe weiter, zweimal noch höre ich den selben Ruf, beim drittenmal in etwas aggressiverem Ton. Ich schaue wieder hin: Der Hund macht noch drei Sätze, bis er Sprungdistanz erreicht hat, ich denke: oh, der spring dich jetzt an, setzt an — und springt nicht. Er stoppt tief geduckt vor mir ab, macht kehrt, und nimmt neuen Anlauf, alles vollkommen lautlos, Graswellen werfend. Was immer der Spaziergänger gesagt hat, er hat es nicht zu diesem Hund gesagt: Der ist zu professionell. Ich bleibe stehen und wende mich um. Ich entschuldige mich, und sage, daß ich Deutscher sei und manchmal nicht verstünde. Der andere erklärt, daß ich auf einem Privatgrundstück sei und fragt mich, wo ich herkäme. Ich sage: Combrit. Er ist verwirrt: der Weg nach Combrit endet am Schloß, von dort kommt er selbst. Ob ich mit dem Auto da sei, fragt er, was keinen Sinn ergibt. Er hat noch nicht verstanden, wie ich an ihm vorbei gekommen bin. Der Hund prescht um Haaresbreite an meinen Beinen vorbei, zurück in die Grasmasse. Ich verstehe inzwischen, was vorgeht: Dieser Mann ist der Wächter. Ich bin der Eindringling. Ein Eindringling mit weißem Hemd, Wachsjacke und einer Kamera mit wunderlichem Objektiv, der durch einen Lorbeerbusch gekommen ist auf einem Weg, den es nicht gibt. Das sei alles Privatgelände, sagt er, und zeigt auf die Gegend, in die ich will, und dann auf die Gegend, aus der ich komme, und die man auf seiner kognitiven Karte nicht durchqueren kann. Ich überlege, ob ich ihn fragen soll, ob das sein Haus sei, und es loben, aber ich will ihn nicht zwingen, Nein zu sagen: Er sieht nicht aus wie ein Schloßbesitzer. Auch kennt er den Namen des Hauses, in dem ich selbst Ferien mache, nicht; jeder Einheimische würde ihn kennen: Nein, dieser etwas unscheinbare blasse Mann in hellen Jeans kommt wohl doch aus Paris. Ob ich Ferien hier mache, fragt er, und ich sage ja, Ferien. Gestern sei ich im Bois de Roscouré gewesen und wolle heute wieder dorthin gehen, am Wasser entlang. Es sei nicht leicht gewesen bisher. Ob man nicht doch am Wasser enlang gehen könne, frage ich, zu mehr Hartnäckigkeit fähig als ich es in meiner Muttersprache wäre, aber inzwischen hat er mich als harmlos eingestuft und macht seine Sache sehr gut: Il y’a une barrière, sagt er und sieht mich fragend an: Sie sind doch keiner, der über Zäune klettert? Ah, sage ich. Mais je peux vous montrer la sortie.. Das gefällt mir: Er verwandelt sich aus Höflichkeit zurück in einen Spaziergänger mit Hund, der mir von den lokalen Gegebenheiten erzählt, obwohl wir beide wissen, daß ich den Perimeter eines Reichen verletzt habe, indem ich durch den undurchdringlichen Lorbeerbusch ging; den Perimeter eines Reichen, dessen Hausrecht er, der Wächter, ausübt. Er zeigt mir den Ausgang, dazu muß man zum Schloß, viel näher, als ich dem großen Haus kommen wollte, komme ich ihm. Ein bisschen Material liegt im Hof, Gips und Kacheln, der Citroen des Wächtes steht da, Gartenmöbel sind auf einer Terasse zusammengestellt. Das Haus und alles hier gehöre dem Herrn, und er sagt einen Namen. Ich gebe zu, den nicht zu kennen. Un realisateur du film, sagt der Wächter, und der Weg nach Combrit führe zur Post, ob ich von dort meinen Weg zurück finden würde? Ich sage ja, erkläre nicht, daß ich mich keinesfalls verirrt hatte, und danke: Er denkt immer noch, ich habe mich verlaufen und es irgendwie an ihm vorbei geschafft.

Von der Post aus kann man in den Bois in gerader Linie gehen, auf dem Weg vom Vortag: Links liegt dann das Grundstück, durch das ich nicht gehen durfte. Ich bin versucht, von der anderen Seite die Existenz eines Zauns zu überprüfen. Es würde mir Spaß machen, wenn es keinen gäbe. Aber ich will nicht riskieren, für einen naseweisen Journalisten gehalten zu werden. Ich habe auch keinen Grund, dem Manne unangenehm zu werden. Im Wald, der dem Conservatoire du littoral gehört, kann ich, nach den Mühen bisher, leicht am Wasser entlang gehen. Ich erreiche meinen Aussichtspunkt und gehe noch weit darüber hinaus, bis ich die Brücke sehe, die ich von der anderen Seite, von St. Marine her, kenne.

Das Herumgehen in der Welt, in diesem Fall das Durchqueren des keltischen Zauberwalds mit den Lorbeerbuschtoren, irritiert das Eigentum, besonders das Eigentum der Autofahrer, die aus Paris kommen auf einen Besitz, den sie rollend sich gar nicht erschließen konnten. Das archaische Ereignis des Fremden, der aus dem Busch kommt, wird weder als Bedrohung noch als Gelegenheit zur Gastfreundschaft behandelt, sondern zuallererst als Sprung im Weltgefüge.

Die Natur ist eben nicht der Kultur entgegengesetzt, diese beiden folgen gemeinsamen Gesetzen und durchdringen sich überall; der spezifische Gegensatz beider ist der zum Sozialen, zum Miteinanderumgehen der Menschen: Das ist die ganz andere, zweite Welt. (Die Natur und die Kultur, Efeu und steingefasste Quellen, schweigen in Komplizenschaft, wenn man ihnen allein begegnet. Der Schatzsucher und der Wächter verhalten sich und erzeugen mehr Verhalten.)

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Über die Durchlässigkeit der Welt: Am Abend des 3. Januar 2006 sah ich fern und blieb bei br alpha hängen; bei einer Sendung, in der es um eine Landschaft in Bayern ging. Das Erzähltempo und die Bilder schienen aus einer anderen Zeit gekommen zu sein. Diese Ruhe war fremd im Jahr 2006 und doppelt fremd im Fernsehen des Jahres 2006. Für mein Weblog notierte ich, aus dem Gedächtnis, einen Satz der Offstimme:

Stundenlang haben wir hier verharrt
auf die schweren Güterzüge gewartet
ihr Donnern verschlingt für Sekunden jede andere Gegenwart
dann wird wieder das sanfte Rauschen des Auwaldes
das Plätschern des Flusses hörbar

Das Bild dazu zeigte den stillen Fluß und am linken Bildrand eine Weide. Ich vergaß es, wie man Fernsehen vergisst, und erinnerte mich später mehrfach und grundlos wieder daran: Unvermittelt und jäh tauchte das Bild auf, auf dem glatten schwarzen Spiegel, und fand Eingang in diesen Kanon von Kulturfragmenten und Bildern, die uns begleiten, ohne daß wir sagen könnten, warum – warum hat sich dieses Bild eines Flusses festgesetzt, neben die Schatten der Kugeln von Louise Bourgeois, oder die Tropfen auf der Herdplatte?

Im Januar dieses Jahres beschloß ich, herauszufinden, was ich da gesehen hatte. Google blieb stumm. Ich wandte mich an den Mitschnittservice des Bayerischen Rundfunks, beschrieb vage, woran ich mich erinnerte, und entschuldigte mich für die Absurdität der Anfrage. Zwei Wochen später hatte ich Antwort, und ihre Genauigkeit erstaunte und rührte mich. Der BR nimmt das Bewusstsein seiner Zuschauer, mit dem er täglich hantiert, sehr ernst. Die Antwort enthielt eine Liste der Bildinhalte, und darin fand sich:

9 — Bahnlinie, fahrender Zug, auch Luftaufnahme 0’20“
10 — Innbrücke, v.v.E., über Brücke fahrende Güterzüge, Auwald am Inn 1’35“
11 — Bauerngarten neben Bahngleis, bunte Blumen 0’35“

Das war meine Sendung, ein „Unter unserem Himmel“ von 1993. Wer im Sendebereich des BR aufgewachsen ist, erinnert sich an die Zither im Vorspann dieser Reihe. Mein Wald war die Einstellung Nummer 10, über Brücke fahrende Güterzüge, Auwald am Inn. Ich bat den BR um eine Kopie der Sendung auf DVD. Hier ist der genaue Wortlaut meiner Stelle:


1993 ist das gedreht worden, von Georg Förtsch, anläßlich einer geplanten Modernisierung der Strecke für Fernschnellzüge: Zweigleisiger Ausbau, Elektrifizierung. Denn 1993 rollten die ersten ICE 1-Züge:

Sie gleiten durch das Land wie Wesen aus einer fernen Zukunft,
weißglänzend, schlank, und pfeilschnell.
Fast lautlos tauchen sie auf,
rasen auf uns zu,
ein scharfer Luftzug: Vorbei.

1993 war das Jahr, als die Menschen so aussahen, und die Computerspiele so.

Am Abend des 22. Mai 2011 komme ich in Mühldorf am Inn mit der Südostbayernbahn von München an. Es ist spät, schon dunkel, und vor dem Bahnhof warten drei einsame Taxis. Obwohl ich mir Sorgen mache, wegen des Hotels, gehe ich zu Fuß: Mühldorf ist nicht groß, und ich will nicht mit dem Taxi in die Innenstadt gefahren werden, das hier ist keine meiner hastigen Geschäftsreisen. Ich will durch das Münchner Tor zum Stadtplatz gehen, wie in der Sendung, derentwegen ich hier bin. Nach ein paar Minuten finde ich das Tor, seltsam vertraut, auch der Platz dahinter sieht aus wie 1993, nur glatter, renovierter, einkaufsstraßenhafter. Ein Müller, ein Weltbild Plus, Banken, K&L Rupert. Das Café Orange, vor dem ein paar Leute stehen und reden. Sie bemerken mich, und ich tausche einen langen Blick mit einem Mädchen. Ich trage ein weißes Hemd und meine verräterische Reisetasche: Ein Fremder in der Stadt. Zwei Brunnen passiere ich noch, dann bin ich am anderen Ende des Stadtplatzes, am Altöttinger Tor angekommen, wo ich mein Hotel finde.

Die Tür lässt sich aufdrücken, drinnen warmes Licht und Teppiche, eine Treppe und am Ende der Treppe Leere, die zurückstarrt. Neben der Leere eine Ritterrüstung. Der Metallmann schweigt. Die Rezeption ist unbesetzt, leise summen eine unsichtbare Leuchtstoffröhre und ein Kühlschrank mit Säften. Mehrere Türen führen vom Gang ab, alle sind verschlossen, kein Licht ist feststellbar hinter keiner von ihnen, nur im Flur ist es hell, vor der Rezeption, neben dem schweigsamen Metallmann. Ein Schild fordert mich auf, einfach den Hörer von einem Telefon abzunehmen, falls die Rezeption unbesetzt sei. Ich nehme den Hörer ab und lausche, höre eine Schaltung knacken, dann ein Tuten, im nächsten Moment klingelt es, bestialisch laut: Ein Handtelefon, dreissig Zentimeter vor mir. Ich lege auf. Ich drehe mich einmal um die eigene Achse und sage zum Metallmann: — Hm. Dann nehme ich den Hörer noch einmal ab. Wieder klingelt das Handset vor mir in seiner Schale, ich lasse es klingeln, es hallt durch den leeren Flur. Nach einer halben Minute lege ich auf, nehme meine Tasche, nicke meinem gepanzerten, aber nutzlosen Gefährten Lebewohl, und stehe wieder auf dem Stadtplatz von Mühldorf. Die Rezeption ist, lese ich auf einem Schild an der Tür, seit einer Stunde geschlossen. Immerhin, denke ich, ist die Nacht warm, und sehe mich um.

Im Café Orange, das „retro“ dekoriert ist, sitzen noch drei kleine Gruppen über Bieren. Das Mädchen von vorhin schaut hoch und grinst mich fragend an. Ich unterdrücke den Impuls, wegzuschauen, einfach nur zum Tresen zu gehen, etwas zu Trinken zu bestellen, den Schweiger zu markieren und nach einem Ginger Ale wieder in die Nacht zu verschwinden. Das ist keine gute Idee. Nie, heute besonders nicht. Wer scheu ist, schläft im Park. Ich sage also: — Ich bin ja auf Herbergssuche. Ich bräuchte ein Hotel, meins ist schon zu, oder die Nummer von jemandem, den man da noch rausklingeln kann. Warum ich „Herbergssuche“ sage, weiß ich nicht, ich glaube, ich hoffe, daß das im katholischen Oberbayern die richtige Mischung aus locker und harmlos ist.

Ich muß dann zuerst erklären, was ich in Mühldorf mache, man vermutet ein Bewerbungsgespräch. Ich erkläre, daß ich mir die Bahnbrücke über den Inn ansehen möchte, und, um das weniger wahnsinnig klingen zu lassen, erwähne ich, was ich studiert habe. Das funktioniert immer. In anderen Worten, ich labere mich wie üblich um Kopf und Kragen. Die drei sind gebürtige Mühldorfer, Chemiker, und arbeiten in Gendorf und Burghausen. Patrizia ist eine von diesen extrem gesunden bayerischen Frauen und glüht, blond und glänzend. Die beiden andern nennen sie „Patti“, und sie versichert mir, daß man mich schon nicht am Bahnhof wird schlafen lassen. Ich gehe aufs Klo, und fünf Minuten, nachdem ich zurückgekommen bin, verabschieden sich die Jungs, sie müssten früh raus morgen, und wenn sie jetzt noch ein Bier nähmen…

Patrizias Neunziger-Jahre-BMW riecht nach Wunderbaum, was sie konzediert. Das sei nicht aus dem Wagen zu kriegen. Sie bewohnt eine Einliegerwohnung im Haus ihrer Tante, drei große Räume mit kalten glatten Granitböden, Edelstahl-Küchengeräten, die einer Chemikerin alle Ehre machen, Flokatis, und einem Fernsehmöbel, alles unter einem leicht schrägen Dach. Die Tanne im Vorgarten, die wir von der breiten Giebelglasfront aus sehen könnten, wiegt ihre Äste im bläulichen LED-Licht einer Solar-Steck-Gartenlampe.

In Wirklichkeit war es nicht genau so. In Wirklichkeit nächtige ich in einem guten alten Garni, wo die Rezeption noch besetzt ist. Zum Zimmer führt eine Treppe aus Steinen mit Trilobiteinschlüssen und schwarzem Eisengeländer, und es riecht dunkel nach Teppichreiniger und Holzpolitur. Das Spannungsfeld zwischen dem Empfindsamen und dem Begehren, denke ich, ist intellektuell und emotional nicht auflösbar, nur praktisch. Das Empfinden selbst kennt kein Geschlecht, nur die große Wirklichkeit, aber die Unvollständigkeit und Lebendigkeit der Körper ist nunmal Teil dieser Wirklichkeit, und deswegen gibt es keine Sanftheit, keine Offenheit gegenüber der Welt, keine Korrespondenz mit der friedlichen Weltseele, die nicht gestört, befeuert und begründet würde von der Gier der Körper. Was denen erlaubt und richtig ist, ist nicht zu wissen, man hat das Recht und die Pflicht es zu versuchen. Wie jede Poesie braucht auch die Poesie der Innbrücke, die ich in Mühldorf jage, einen Adressaten.

Ich frühstücke zwischen ausnahmslos ältlichen Hotelgästen, die entschlossen sind, von diesem ihrem 50-Euro-Hotel gerade betrogen zu werden. Dauernd maulen sie hinter der extrem freundlichen und gutmütigen Chefin ihre albernen und ungerechten Vorwürfe her: Die Brötchen seien ganz sicher Aufbackbrötchen, gestern sei nicht genug Grünkernbrot da gewesen (empörend!) und die Mühldorfer führen frühmorgens mit ihren Autos auf ihrem Marktplatz herum, es sei kein ruhiges Hotel. Ich hasse die Bagage von ganzem Herzen.

Auf dem Weg am Inn entlang versuche ich, mir die Brücke vorzustellen, und die Güterzüge: Die Brücke müsste zwei Teile haben, die Steinbögen und den Stahltrog. Der Inn ist schon da. Der Inn fließt ruhig, unbeschifft, ungestört, ein einzelner Angler sitzt nahe Mühldorf noch am Ufer, dann bin ich allein im Auwald. Es ist nicht so still, wie ich mir das ausgemalt hatte, auf der anderen Flußseite verläuft die Straße nach Altötting. Sie ist meist nicht direkt hörbar, nur atmosphärisch präsent. Und der Himmel über Oberbayern dröhnt: Franz Joseph Strauß ist nicht weit. Es gibt stille Momente, in denen nichts übrig bleibt außer den Vögeln und dem Wasser, aber sie sind selten. Dann höre ich das Einstürzende-Neubauten-Geräusch fallenden Stahls vor mir. Da ist die Brücke und zwei Kräne: Sie bauen das zweite Gleis. In den 18 Jahren seit der BR-Sendung ist nichts passiert und nichts modernisiert worden, keine ICEs fahren zwischen Mühldorf und Salzburg. Jetzt aber passiert es: Die Brücke ist eine Baustelle und abgesperrt, gelbe Alpine-Schilder verbieten den Zugang, Ingenieure weisen auf Dinge und telefonieren, Männer mit Helmen gießen Stahlbeton und hieven Stangen durch die Luft. Neben dem alten Stahltrog ragt eine halbe Betonbrücke über den Inn, nicht auf den Doppelfundamenten der alten Brücke natürlich. Ich bleibe zwischen den Büschen stehen und störe nicht. Es hat keinen Sinn, auf der Baustelle dieser Leute herumzuschleichen.

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In Hörweite der Baustelle werfe ich die Jacke in die Uferböschung, setze mich, und warte auf Züge. Mehrere kurze Personenzüge rauschen vorbei, dann, später, endlich, ein langer Güterzug. Ich verstehe jetzt die besondere Akustik dieser Brücke: Die Stahltrogkonstruktion. Der Donner ist betäubend, rund, vollständig, füllt den Wald und den Fluß, verschlingt für Augenblicke jede andere Gegenwart, und wie ein Auftauchen aus Taubheit kehrt sie dann zurück aus dem Geräusch. Der Donner der Innbrücke bei Mühldorf ist jede Reise wert, selbst die Baustelle und die Flugzeuge sind unwesentliche Störungen. Und man muß auf Güterzüge warten, nur die Güterzüge sind lange und schwer genug für den Effekt, und man muß geduldig sein, häufig fahren sie nicht.

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Der Donner ist kein Zeichen, keine Kommunikation, keine unterlassene Kommunikation. Er enthält kein Urteil und keinen Verdacht. Ich frage mich, ob das noch denkbar ist, in der Inflation von Bestätigung und Zweifel, in der wir leben: Daß da eine Brücke im Wald ist, die nichts über uns verrät, nicht erhebt und nicht verdammt, nur packt und loslässt. Wo kämen wir da hin, mit dieser Brücke, wenn wir zuließen, daß dieser forderungsfreie Donner sich ausbreitete aus dem Auwald — wer könnte noch wissen, was er wert wäre? Ich warte, auf den Fluß schauend.

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Die Ostseite der Brücke ist sehr viel schwerer zugänglich. Ich muß die Bahn überqueren, in Aham, und auf der anderen Seite gibt es keine Möglichkeit, ans Innufer zurück zu kommen. Ein großes Anwesen zeigt ein Sackgassenschild und behauptet: „Privatweg“. Auf dem Hof große Autos mit Münchener Nummernschildern, später finde ich im Wald die östliche Grenze des Grundstücks, Stacheldraht und im Zaun nicht einmal eine Tür zum Wald hin: Ignoranten. Ich nehme einen Feldweg nach Töging, probiere ein paar tote Abzweigungen, werde von einem Hund verbellt, und stoße schließlich auf einen offenbar aufgegebenen Uferweg — vermutlich führt er nach Osten am Inn entlang bis zur Kanalmündung. Es gibt eine Bank ohne Sitzbretter und eine befestigte Treppe zum Ufer, über der umgestürzte Bäume liegen. Ich finde einen kleinen Bach und eine Quelle, und fülle meine Wasserflasche nach. Mir fällt auf, daß das, was ich da mache, möglicherweise Wandern ist. Nach Westen zurück, zur Brücke, gibt es am Wasser entlang keinen Weg, deswegen überquere ich ein Maisfeld — das geht jetzt Ende Mai noch problemlos — und lande in einem kleinen, wilden Waldstück. Und dann: Der Bahndamm. Auf dieser Seite der Baustelle ist nichts abgesperrt, nur ein Pro-Forma-Schild weist einen, der etwa aus dem Maisfeld käme, darauf hin, daß hier die Alpine baut und Eltern für ihre Kinder haften. Und da ist die Brücke wieder, viel näher als von der Mühldorfer Seite. Ein Güterzug begrüßt mich, eine lange Reihe schwerer Tanks.


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1. Ort: Bargfeld liegt 20 km NO von Celle (dies Sitz d. zuständigen Behörden) / Einwohnerzahl 350 ( 45 Häuser) / Verbindungen: in Eldingen, 3 km S, Bahnstation der Linie Celle Wittingen. – Die Landstraße selbst hört im Ort auf, da weiterhin nur Moor und ödeheide; also keinerlei Durchgangsverkehr; absolute Stille garantiert (und durch 2 Übernachtungen erprobt). / Poststelle beim Gastwirt (dort auch ein öffentlicher Fernsprecher). Ein weiteres Telefon beim Kaufmann. Keine Kirche (!). Schule am anderen Ortsende, bei Schlotters; also auch diese Lärmquelle quantité négligeable. / Bei Wahlen 30% SPD=Stimmen. / Kohlenhändler und Wäscherei in Eldingen; kommen ins Dorf. / Flüßchen Lutter (Badegelegenheit schwierig zu finden (Fischteiche? ›Bei 20 Mark Strafe ..?‹) ein offizielles Bad in Eldingen). / Die Häuser des Ortes liegen um einen, mit einem ›Eichenkamp‹ bestandenen, Dorfplatz; dies die ›City‹ mit Wirtshaus, Feuerspritze und Ortsbulle. // 2. Umgebung und Klima: weite ›Parklandschaft‹; d.h. Flächen (20% Äcker; 80% Wiesen und Weiden) durchsetzt mit Waldstücken (Bauernwald) von meist 500 x 250m Größe. Etwa 50% der gesamten Umgebung Wald. / Feuchte Niederungen von prächtigstem Moorcharakter; gegen NO sogenannte ›Wilde Moore‹, d.h. solche, in denen Wanderer, ohne irgend Aufsehen zu erregen, versinken können (panzersicher!) In dieser Richtung kann man 50 km gehen, ohne irgend ein Haus zu erblicken! [#]

Hannover war überlaufen. Links und rechts warfen sie Rollkoffer in meinen Weg, damit ich fallen sollte. Ich kaufte eine Flasche Wasser und fragte, wo man ein Auto mieten könne, und sie sagten’s mir. Nur gab es keine Autos mehr in Hannover, nicht am Samstagnachmittag, nicht am Bahnhof, wo das Leben sinnlos vor sich hin tobte. Kaum war der Plan unmöglich geworden, bemerkte ich, wie absurd er gewesen war, und erleichtert stieg ich in die S-Bahn nach Celle: Ich hatte kein Auto: gut! Meinen Eisenbahnfrieden gegen den Straßenkrieg zu tauschen, Unsinn.

In Celle ist den Schildern der Einheimischen nicht zu trauen, wenn das Hotel links liegt, weist das Schild der Hotelroute es rechts aus. Ich nehme an, daß die Hotelroute für Automobile gedacht und kreisförmig ist, oder daß das Celler Loch kein gefälschter Sprengstoffanschlag, sondern die Wohnhöhle eines gefräßigen Heidesandwurms ist, dem die Celler per Beschilderung Touristen zuführen. Ansonsten ist Celle proper und rechtschaffen, nur das Schloß ist unglücklicherweise etwas hässlich geraten.

Daß ich kein Auto mehr bekommen werde, weiß ich schon. Ich brauche ein Auto, denn Bargfeld liegt etwas mehr als zwanzig Kilometer im Nordosten. In Eldingen gibt es die Kleinbahn, die Schmidt Ende der 50er erwähnt, seit vermutlich 1974 nicht mehr. Ich frage an der Rezeption, bescheiden: Vielleicht ein Fahrrad? Auch kein Fahrrad am Samstagmittag. Eine Viertelstunde später hat sie doch eins beschafft (Ehrensache: was denkt der einsame Reisende mit Berliner Adresse denn sonst?). Es ist ein ungeschlachtes Damenrad mit 7-Gang-Nabenschaltung, wacker & schlottrig; ich bin zufrieden und stürze los, verfahre mich kurz in Celle, oder besser um Celle herum, finde die richtige Straße, dann nimmt Celle kein Ende, und dann bin ich draussen, im Kiefernwald, die Sonne schon tief am Himmel: Na verdammt, und außerdem bin ich seit Jahren nicht radgefahren und fühle mich sofort schwach mit dem zähen Ding. In Beedenbostel, fünfzehn Kilometer vor Bargfeld, etwa auf halber Strecke, gebe ich zähneknirschend auf: Da hätt‘ ich mal schön in der Heide übernachtet, hätt‘ ich das versucht.

There’s plenty of Windrad in Beedenbostel.

Unter den niederen Dächern der Höfe stehen mit Heu überladene Gummiwagen und duften. Eine Mühle macht gar nichts. Eichen und Birken. Ein Abweg: Weil die Kühe so friedlich aussehen und anziehend nach Kuh riechen. Die dürfen hier raus und nach Kuh riechen: Sagenhaft. 1979, als Arno Schmidt starb und ich geboren wurde, rochen Kühe so, im Schwäbischen und im Hannoverschen. Im Schwäbischen hat man sie inzwischen weggesperrt. Na toll, denk ich, das ist ein echter Vuine: fünfzehn Kilometer vor Bargfeld scheitern, weil kein Auto aufzutreiben war. Und schlingre zurück über die Landstraße in meinem weißen Hemd, und die vorbeiröhrenden Hyundai-Sportwagen denken sich mal wieder ihren verächtlichen Teil.

Am Abend beschließe ich, noch einen Tag zu bleiben und einen zweiten Versuch zu unternehmen: Mit dem Metronom bis Eschede, und dann von Westen her rüber: Über die Flanke.

Es ist leicht von Eschede aus. Eschede selbst ist schön, nicht zuletzt, weil es einen Laden gibt, der einmal ein Eisewarengeschäft war. Ich weiß, daß es einmal ein Eisenwarengeschäft war, weil es Eisenwarengeschäfte in Dörfern dieser Größe gab, und weil sie sich während der 80er alle gleichzeitig zu etwas entwickelten, wofür es keine Gattungsbezeichnung gibt, außer: Läden, die einmal Eisenwarengeschäfte waren. Es fing vermutlich mit kupfernen Lampen und Kannen an. Dann kamen die bemalten Enten, die Ampeln, Glaskraniche, Tiffany-Vasen, Ziertöpfe, Zinnkrüge und Zinnfiguren. Regal um Regal voll nutzloser, nie abverkaufter, den Städtern unverständlicher, wunderbarer, seit inzwischen fünfundzwanzig Jahren altmodischer Dinge aus einem Land, in dem Kupferblechlampen an schmiedeeisernen Ketten zwischen braunvertäfelten Wänden hingen. Diese einstigen Eisenwarenläden haben nicht mehr auf, sie sind nur noch da, mit einer kleinen runden Knopfklingel und einem trübcraquelierten Plastikglas daneben. Man klingelt, wenn man den Flaschner treffen will, mit einer irren Konstruktion im Kopf für einen Tisch, auf dem man auch eine Bohrinsel würde abstellen können. Der Flaschner spottet und macht’s halt, und wenn die Ladentür geht, bimmelt sie. Eine orangene Moulinex-Friteuse wartet im Hintergrund für immer auf ihren Prinzen.

Nach Eschede: Schotterwege, Weiler, rasende Landwirtschaftsmonster mit siebenjährigen Buben, hoch oben im Sozius. Ein langer, gerader Pfad, leicht abschüssig, na danke, frohen Rückweg. Kühe. Zum Trauern haben die keinen Grund, aber gefleckt sindse: also. Die Windräder in Beedenbostel drüben, so sehn die von hier aus, gleich nämlich. Dann: Bargfeld, erst ein paar Dächer, dann ein Glascontainer, ein Durchfahrt-Verboten-Schild, drauf mit Edding: „Zecken!“, und ein Ortsschild: Bargfeld. Gemeinde Eldingen. Landkreis Celle. Codename für Danke Welt, sei gern für den Rest meines Lebens ohne mich laut. Ich hatte es mir sehr viel karger vorgestellt: Nur planes lila Heidekraut so weit das Auge reicht, und eine Kate mit einer Pumpe davor. Aber Bargfeld ist üppig, Wäldchen und Felder ringsum, riesige Eichen stehen im Ortskern. Und das Gasthaus Bangemann, im Hof: Ein Rudel Räder. Ich schließe meins unter den Eichen ab und gehe nach Norden raus, wo das Moor sein soll (panzersicheres Gebiet!), überquere die Lutter, und da ist Moor. Es ist kein finsteres, bäumeverkrüppelnd schwarzes Krebsmoor wie meins, und es ist Juni: freundlich und fröschern. Und Wildgänse, irgendwo vor mir. Stiebende Pappelflusen im Mittagslicht.

Zurück im Dorf: Ich wage mich zu Bangemann. In Bargfeld hat es keinen Sinn mehr, unschuldig zu tun. Die wissen alle, warum einer hier ist, der aussieht wie ich. Die Truppe Fahrradausflügler, die bei Bangemann sitzt, ist jedenfalls nicht wegen Schmidt hier: Alle knarz und bunt über sechzig, eine reguläre Radtour. Was bedeutet, ich bin der Einzige. Es gibt keinen besonders regen Arno-Schmidt-Tourismus, wie es aussieht. Hätt‘ ich erwartet: Wegen Gemeindebildung. Ich bin einfach an einem Sonntagmittag mit einer alten Mähre von einem Rad in ein schwer erreichbares Dorf am Südende der Lüneburger Heide gefahren, und dort steht das Haus von einem Dichter, der seit über dreissig Jahren tot ist und den immer noch welche lesen.

Bangemann: Ein Dorfgasthof mit dem Geruch der Dorfgasthöfe, Bier, Rauch, Menschen und Würfelbecher über viele Jahrzehnte. Holztäfelung, Überlagerungen: der Resopaltresen, den ich auf fünfzig Jahre schätze, die Falt-Schiebetür aus Holz: nicht ganz dreissig, die Vorhänge wenigstens zwanzig. Die Schreibtischlampe im Arbeitszimmer kenne ich, ich habe sie vor zwei Jahren fünfzehnmal fürs Büro gekauft: IKEA TERTIAL. Der Zapfhahn aus rotem Marmor verrät eine Marke: Eisfink, in schwungvoller Petticoat-Typographie.

Und dann: Zum Kronsberg. Vorn die Stiftung, vornehm, verlassen, ein ziemlich aktueller iMac in einem der Fenster. Dahinter das Haus, das Gartentor (Kette, Vorhängeschloß) und das Archivhäuschen, der Garten, und dann nichts mehr, schwächelnder Feldweg nach Osten. Ich habe keine Besichtigung vereinbart, nicht für mich allein und unter so abenteuerlichen Bedingungen schon doppelt nicht. Vorne, am Türschild der Stiftung, steht eine Telefonnummer. Ich bin keine Sekunde in Versuchung: Ich störe niemanden beim Mittagessen, wer weiß wo? weil ich die seit dreissig Jahren stillen Bücher und die Lampenmorcheln eines toten Helden sehen will : sind wir zum Botanisieren hier ? !

Wieder auf dem Rad geht es leichter als erwartet, die Steigungen sind alle lachhaft — überhaupt habe ich statt des erwarteten rüden Muskelkaters nach dem gestrigen ersten Versuch nur einen zerstoßenen Steiß. Das harte Geleucht der Mittagssonne macht mir zu schaffen, nicht weil es nicht angenehm wäre, sondern weil es mir seinen Vers aufdrängt, und weil ich ein verirrter Wahl-Städter mitten in der Heide bin: Nicht nur schnappt meine Wasserflasche bei jedem Schlagloch vom Gepäckträger und springt ins Gebüsch, ich habe auch keinen Sonnenschutz dabei; britzelt schon.
Zwei Feldsprenger sprengen den Radweg vor Eschede mit, und ich fahre mit Karacho in das launische Gegischte hinein und grunze einen grinsenden Regenbogen.

Eschede, Bahnhof: Ein Liebespaar, beide siebzehn, trennt sich am Metronom. Komm mit, sagt er, und meint es so. Ich würd so gern, sagt sie, und rührt sich nicht. Er bleibt in der Tür stehen. Sie macht einen Schritt vorwärts, er spannt alle Muskeln an. Sie bleibt stehen – zweimal fiept die Tür, zwei Küsse durchs Fenster. Er steigt in Celle mit aus: 10 Minuten Fahrt. Es wird eine endlose Nacht.

Celle ist offenbar reich, alles ist prächtig. Vor der Martinskirche gibt es einen verspielten Brunnen, ohne Becken direkt im Pflaster, wie man das jetzt macht, der jedesmal, wenn ich vorbeigehe, mit einer neuen Funktion angibt. Gerade sprüht er feinen Dunst, gleich stuppt er lustige dicke Tropfen hoch, von West nach Ost läuft die Tropfengirlande und zurück. Die Celler Jugend sieht proletarisch aus und fährt teure Cabrios: So eine Stadt ist das.

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[Bargfeld, Naturpark Südheide, Niedersachsen]

April is the cruellest month, breeding
Lilacs out of the dead land, mixing
Memory and desire, stirring
Dull roots with spring rain.
Winter kept us warm, covering
Earth in forgetful snow, feeding
A little life with dried tubers.

Die Stadt endet nicht und endet nicht: Ich gehe nach Osten, nicht nach Norden, im Norden würde es wohl ein Ende geben. Die Ringautobahn kann nicht weit sein: ein McDonalds-Schild, ein Aral-Schild und blaue Zeichen. Was immer zuerst auffällt: Daß der Horizont wieder da ist. In der Stadt existiert er nicht, monatelang ist er abwesend, aber schon beim Unsteigen am Elsterwerdaer Platz ist er wieder da, wo das von zu viel Platz erschöpfte Biesdorf Center (#) mit ausbleichenden Schildern (Takko etc.) auf dem Parkplatz kauert. Der Horizont ist da, alle Bewegungen langsamer, und alles wartet bestimmungslos darauf, daß Zeit vergeht.

Die Stadt hört nicht auf in Hönow: Siedlungsgebiet, Reihenhäuser, Gartenstadt. Rentner, Hunde, kleine Gruppen von Mittzwanzigern. Die Gemeinde hat Parks zwischen die Häuser geplant, Spielplätze, kleine Hügel, Schilf, Brücken. Ich gehe über eine der kleinen Holzbrücken, mir entgegen kommt eine junge Frau, die sich für unansehnlich hält, mit einem kleinen Hund. Die sieht nicht auf, nicht einmal, als unter mir eine Ente aufflattert: Ich bin ein Fremder, die Männer hier sehen anders aus. Sie tragen keine weißen Hemden, wer weiß, was das hier bedeutet, sondern gestreifte Poloshirts und Dreiviertelhosen. Sie sitzen entweder mit der Familie auf einer Bank, oder gehen in Zweiergruppen: Vater um die Fünfzig, Sohn um die fünfundzwanzig, beide mit großem Hund.

Auf einem der Hügel sitzen zwei Freundinnen in der Sonne und unterhalten sich. Ich stelle mir vor, wie weit sich die niedrigen Häuser zu ihren Füßen erstrecken, ich stelle mir vor, wie die Sonntagnachmittage auf diesem Hügel sie ihr Leben lang zusammenbinden werden, ganz gleich, ob die Gemeinde Hönow ihn damals vorgefunden hat, oder mit einer Caterpillar-Baumaschine in zwei Stunden zusammengeschoben.

Die Stadt hört immer noch nicht auf, die Häuser werden etwas teurer, auch die Autos. Die Straßen sind nach süddeutschen Städten benannt. In den Wohnzimmern hängen die Lampen, die es eben bei Höffner und in den Baumärkten gibt: Welche sonst? Osterschmuck. Vor einem der niedrigen Reihenhäuser zwei Frauen und ein Kind: Geh mal klingeln beim Herrn Hagebrecht. Die Kleine traut sich aber nicht so recht, oder weiß nicht, was man von ihr will. Ich solidarisiere mich insgeheim, das habe ich gehasst, Klingelnsollen bei irgendwelchen Herren Hagebrecht. Am Wasser, das sich durch die Grünanlage zieht, steht ein Zehnjähriger mit einem Netz und macht keinen Mucks.

Dann hört die Stadt doch auf, oder jedenfalls sieht es kurz so aus — eine Wiese, ein kleiner, nicht von der Gemeinde Hönow erdachter Bach, Büsche. Ich gehe am Bach entlang und suche eine Stelle für einen Sprung, um mich in den Schatten auf der anderen Seite zu setzen. Als ich die Stelle finde, wo ein vergrabenes Betonrohr eine primitive Brücke bildet, bemerke ich, daß der Hang auf der anderen Seite keine Wiese ist, sondern ein Feld: Wintergetreide. Es gibt einen sandigen Weg durch das Feld, auf den Hügel hinauf, oben: Häuser.

Ich bin mir nicht sicher, was östlich von Hönow kommt, aber mich interessiert, ob es ein Dorf ist oder noch mehr Siedlungsgebiet. Ich gehe also los, durch das Feld, über das der Wind zottelt, hügelan. Zwei alte Leute auf Fahrrädern kommen mir entgegen: Na, die schieben doch, wenn die da wieder hoch wollen. Auf halbem Weg bleibe ich stehen, der Wind nimmt Sand vom Feld vor mir auf, macht eine Kapriole über dem dunkelgrünen Getreide damit und setzt ihn sanft wieder ab. Rechts von mir ist noch eine Bewegung: Ein weißes Pferd auf einem entfernten Weg. Als ich oben ankomme, stellt sich schnell heraus, daß die Häuser neu sind und teuer waren. Besonders geschmackvoll sind die meisten nicht, es gibt Schloßzitate, und bei mehr als einem ist dem Bauherrn auf halbem Weg die Puste ausgegangen: Da hatte jemand eine Idee von einem Haus und auch genug Geld, aber nicht genug Geduld und Zeit und Vorstellungskraft für die Details. Eins mit schwarzem Holz und Glas könnte mir gefallen, denke ich von weitem, aber beim Näherkommen: Lamellenvorhänge und Nippkram darinnen (Nippkram mit Schlips, aber Nippkram). Ehemals Besitzer einer drittklassigen kleinen Werbeagentur, denke ich, oder Zahnarzt. Die Leute, die ich in den Gärten sehe, sind älter und leuchten rötlich. An der Straße: Mercedes und Zweitwagen, Audi und Zweitwagen, einmal ein BMW-Coupé. Eine Kleingruppe auf einer der langen geraden Straßenfluchten ist offenbar eine Familie beim Spaziergang: ein paar Mittvierziger, eine alte Frau im Rollstuhl, ihr Mann, und zwei Siebzehnjährige, die Arm in Arm gehen.

(Man sollte, denke ich, davon ausgehen, daß es eine dumme Idee ist, Leuten erzählen zu wollen, wie sie leben sollen. Das alles hier ist fremd, viel fremder noch als die kahle Brutalität von Lichtenberg, aber wer könnte diesen Menschen sagen, daß sie sich irren, diesen tausenden von Menschen in ihren Häusern an endlosen stillen Straßen.)

Beim Rückweg über das Feld leuchtet mein Taschentuch grell in der Sonne, der Anblick meiner Hemdsärmel schmerzt schön im hartvioletten Licht. Ich bleibe stehen, beschatte die Augen mit einer Hand, die gleichzeitig die Haare im Zaum hält. Merkwürdig, ein Feld, ein Bach — alles Autogebiet, ich bin der einzige ohne Auto kilometerweit.

Der Weltgeist war besoffen. Die Helden der bürgerlichen Phantasie, also der Phantasie einer Klasse, die auf Leute setzte, die mit ihren eigenen Dampfmaschinenideen in der Welt vorankommen konnten, starben aus — wer heute […] die Romane von F. Scott Fitzgerald liest, wer sich vorstellt, was für Patienten zu Siegmund Freud kamen, um sich das Ich reparieren zu lassen, wer an die Brüder Goncourt denkt oder an Walter Benjamins Flaneur, wer das lyrische Ich bei Hofmannsthal, bei T.S. Eliot oder in Ezra Pounds »Mauberley«-Gedichten untersucht, muß sich wundern: Wo kamen diese Menschen her, wo sind sie hin?

Die Stadt war lange, lange nicht zu Ende, als ich umkehrte.


[Zochegraben, Neuenhagen bei Berlin]

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Clip by Crush, Inc., commissioned by Random House Canada for „The Gum Thief“ by Douglas Coupland.

Schon am Vortag in Dresden waren gelegentlich die alten Automobile aufgefallen: Auf den breiteren Straßen, die wir überquerten auf dem Weg in die Neustadt, sah man hin und wieder, mit Desinteresse, einen polierten Mercedes-Benz aus glorreicheren Tagen.

Neustadt ist sehr kunstgewerblich, echt und unecht; echte Menschen leben wirklich von wenig Geld, produzieren aber teure Langeweileware für die trägen Samstagnachmittage der Leute in klassischen Arbeitsverhältnissen und für deren studierende Kinder. Seife, so viel Seife: Seife, duftende Seife, blumenförmige Seife, fischförmige Seife. Seife als Granulat oder herzförmig, sprudelnde Seife, Seifenstifte zum Malen an der Badezimmerwand. In herbes, dunkles Papier gewickelte farblose Seife, tropfenförmige blaue Seife. Ein Seifenmobile. Oben im Regal ein mächtiger Seifenklotz, davor: Seifenscheiben vom Seifenklotz. Ein Seifenaquarium, in dem Blüten aus Seife erstarrt sind, polierte, handliche Stücke davon. Gewaltige Seifenhaufen aus kistengroßen Riesenseifen. Käfer aus Seife. Seifenhalter. Polierte herzförmige Steine, bunte Tücher, Holzspielzeug und winzige Spieluhren, die Yesterday spielen, weswegen ich den Rest des Tages mit Can’t buy me love verbringe und mich mehrfach von lautem Lossingen abhalten muß. Ich kann nicht leugnen, daß ich die Seifen und alles sehr mochte.

Der Sonntagmorgen in Freiberg: Man geht sehr fremd durch diese Stadt, die überraschend schön ist und seltsam leer; das Silicon Valley der frühen Neuzeit forscht immer noch immer leise vor sich hin, man hat sich allerdings darauf eingerichtet, als letzten verbliebenen Gegenstand die Vergangenheit zu erforschen, ein Toter im Spiegel spricht auf hohem Niveau vom Leben; man kann nichts dagegen einwenden außer daß es ein wenig unheimlich ist. Man geht fremd durch Freiberg. Am Untermarkt, zwischen gebürsteten Häusern mit blitzblankroten Dächern unter dem leerem Sonntagshimmel: Eine Schlange aus glänzenden alten Sportwagen tuckert Zentimeter für Zentimeter heran, ein Fahrzeug nach dem anderen fährt vor und parkt, unter den Augen eines kleinen Pulks nicht mehr junger Menschen, rückwärts in einen stählernen Verschlag ein. Der Motor wird abgestellt, seicht klappt los: Applaus. Das Geräusch des Anlassers dann, eine kurze, kräftige Beschleunigung, und der nächste. Auf der anderen Seite des Platzes stehen ein paar Männer in Anzügen auf einer weißen Plane und spielen gefälligen Jazz.

Die Gemeinde ist offenbar wohlhabend. Eine Renoviertheit, die man im Osten nicht erwartet, es sieht aus wie in einem westdeutschen Klein-Bad, das noch immer Kurmillionen der achtziger Jahre verdaut. Wieder erschrecke ich vor dem Geld im Osten. Man rechnet nicht damit, daß in manchen Regionen kluge Kommunalpolitik gemacht wird, nach Jahren in Berlin scheint kluge Kommunalpolitik unwahrscheinlich. Zudem habe ich Reste von Rolf-Hochhuth-Unsinn im Kopf, die Wessis, die Bösewichter, etc. Der Mann irrt ja, wenn er eine Tastatur anfasst; er meint es gut und irrt sich in seiner rührseligen Empörung über die Unmoral der Macht, eine so wirkungslose wie dumme Haltung, weil sie die innere Komplexität der Macht vollkommen ignoriert, Verschränkungsstrukturen von Interessen und Rationalität, in der es nur kleine, die eigentliche Macht konstituierende Ungleichgewichte gibt.

Freiberg ist wohlhabend, sagt man mir, es wurde kluge Politik gemacht, es gibt Halbleiterindustrie und Green-Tech-Mittelstand in der Region. Falls etwas mit der Stadt nicht stimmt, dann hat es viel weniger mit der Lage im Osten zu tun als mit der im Erzgebirge und der Tatsache, daß die lange Bergbaugeschichte Freibergs zu Ende ist. Kein Vergleich aber mit dem Elend in Mecklenburg-Vorpommern oder etwa dem unwirklichen Ort Sangerhausen in Sachsen-Anhalt, den ich vor Jahren besuchte, einer bizarren Leere mit Häusern im ständigen Schlagschatten zweier Schlackehalden, so schwarz und gewaltig wie die Fettaugen auf dem Kaffee, den man am Rande des verlassenen Riesenmarktplatzes bestellen konnte.

Glanz, Elend und Möglichkeit von citizen gonzo:
Strategien der Verschwendung von Mitteln müssten erarbeitet werden
Sie müssten bezahlen und wir versprächen im Gegenzug:
Nichts sinnvolles werden wir beginnen mit unanständigen Geldmengen
Sonderbare Hotels buchen und lauwarmes Bier trinken
Lesen in gleißendhell klimatisierten Hallen
Und in der Sonne leere Koffer über den Asphalt tragen
(Denn selbstverständlich tragen wir unsere Koffer)
Nichts zurückbringend, glosende Sinne und ein paar Sätze für Sie,
Bewohner der gentrifizierten Viertel
Sie wollen es doch auch.


[Freiberg (Sachsen) Untermarkt]

Berlin nach Osten und mit der S-Bahn zu verlassen bedeutet immer, Klassenfragen zu wälzen. Von Osten zurückzukommen nicht, dann herrscht die Entspannung des von Brandenburg korrigierten Blicks. Wer aber hinausfährt, überschreitet am Ostkreuz eine Grenze und muß sich beschäftigen damit, warum er sie wahrnimmt; die vertraut aussehenden Menschen jenseits sind ältere Damen mit Halsband und einer kleinen Plastiktüte mit ungepflanzten Blumen. Die Jüngeren aber haben rötere Gesichter, kürzere Haare, bleichere Kleidung, klobigere Schuhe und mehr und größere Hunde als die Leute in Mitte und Prenzlauer Berg.

Wo sich die S 75 von der 7 trennt, dreht sich rechts ein riesenhaftes Haus an die Bahn heran im weiten Bogen. Ein guter Einfall, eine Art Einfallstor für den Wind; eine lange, kantenlose Front der Plattenbausiedlung nach Osten. Vor ein paar Jahren gab es die Geschichte, daß aus einer der Wohnungen dort bei einem Beziehungskrach eine Waschmaschine aus dem Fenster geworfen worden sei und ein Kind erschlagen habe. Dieser Art sind die Geschichten, die man sich über die Leute hier erzählt; die BZ druckt sie, die Leute hier vergessen sie, die aus dem Prenzlauer Berg merken sie sich jahrelang.

Ich fahre bis Springpfuhl. Man macht hier keinen Hehl aus der Qualität des Geländes, auf dem die Hochhäuser stehen. Springpfuhl, Wuhlheide. Das Bezirksamt Marzahn ist dort oben, in einem braunen, verhältnismäßig niedrigen Haus auf vernarbtem Beton, vor Jahren war ich einmal dort. Zurück nach Friedrichsfelde Ost, wo es am Bahnsteig seltsam still ist. Kaum Straßenlärm. Nur eine kleine junge Frau lacht und spricht leise unter den Zärtlichkeiten ihres bulligen und sehr viel größeren Freundes; sie kichert, ey die Leute denken noch Du machst wat wat ick garnich will; die Leute, das bin wohl ich gewesen, aber ich habe nichts dergleichen gedacht.

Am Alexanderplatz, wo neuerdings eine permanent bratwurstige Feststimmung auf einer Art Dauer-Weichnachtsmarkt herrscht, hatte ich noch Angst, die Stadt in einer Herde Oster-Sommerfrischler verlassen zu müssen, aber gefehlt: Nach Biesdorf bin ich im Zug alleine mit Pendlern, wir seh’n uns morgen, sagen sie, wenn sie aussteigen, zu denen die bleiben. Morgen ist Ostersonntag.

Ein verirrtes Tassimo-Plakat hängt da, als schäme es sich. Die zweifelhafte Praxis des Milchschaumschlürfens, die man im Prenzlauer Berg für den höchsten Ausdruck von Lebensqualität hält, weckt hier, möchte man meinen, kaum Begehrlichkeit. Ich glaube, in meiner Gegend denken sie wirklich, daß es denen hier draußen schlecht gehe, weil sie nicht begriffen haben, wie fantastisch die laut rüsselnden neuen Automaten Milch auf den Kaffee schäumen können.

Berlin endet optisch in Mahlsdorf. Ich steige aus und gehe ein paar Schritte, aber es ist zu langweilig: Baumschulenweg, in viel kleiner, in noch viel schäbiger und noch langweiliger.

Auf dem Bahnsteig, allein, beim Warten auf die nächste 5, lese ich. Versöhnliches Wetter. Nicht schön (obwohl es natürlich schön ist) — versöhnlich. Fast still. Gleise schnurgerade nach Osten, dort muß irgendwo das mythische Strausberg sein. Ich verstehe jetzt, daß die S5 ein Fremdling ist am Hackeschen Markt. Sie gleitet lange und leer durch Brandenburg, in ihrem richtigen Leben. Die hektischen Abschnitte in Mitte sind kaum mehr als kurze Aufregungen.

Bahnsteig, Mahlsdorf. Blick nach Osten.

Karges, dunkles Land, auch in der Sonne. Birkenstein: Definitiv nicht mehr Berlin. Trost- und Baumlose Ebene mit wuchernden Fertighaus-Krampfadern. Auch hier baut City-Haus — Direkt vom Bauunternehmer. Dann Rapsfelder, in ein paar Wochen explodiert das hier in Farbe. Fredersdorf dagegen sieht nett aus, hat sich feingemacht, Fredersdorf bei Berlin. Und an jedem Bahnhof der S5 eine frische Sparkasse, eine Bäckerei, ein Dönerwagen.

Schließlich Strausberg. Ich wäre lieber bis Strausberg Nord gefahren, aber die Bahn endet hier, und ich habe keine Lust mehr zu warten. Ich werde den mythischen Ort also ein andermal besuchen müssen. Neben dem Dönerstand ein klassischerer Imbiß. Vier von ihrer Nutzlosigkeit erschöpfte Männer trinken Bier und stören sich gar nicht am Fettgeruch. Die hatn Messa da drinne pass bloß uff, ajaja, ajaja-ja.

Ich will nicht auf die Karte sehen und gehe deswegen einfach an der S-Bahn entlang. Eine brandenburgische Dorfstraße, niedrige Häuser, abwechselnd im Zustand des Verfalls oder unfertig renoviert: Neue Fenster, sichtbare Isolierschaumknollen. Das bleibt hier länger so, man begegnet hier dem Unfertigen viel gelassener als in Süddeutschland.

Wo die Bahn eine Biegung nach Norden macht (dort liegt Strausberg Nord), überquere ich, längst vollkommen allein, die Gleise. Links ein großes verfallendes Anwesen, zu dem es keinen Zugang zu geben scheint.

Das rätselfhafte Anwesen

Auf der Kopfsteinpflasterstraße bollern Kleinwagen mit jungen Männern vorbei, die mich in die Kategorie „Spinner aus Berlin, ungefährlich“ sortieren. Einmal überhole ich ein Paar mit Kinderwagen: Dicklich und extrem jung beide, er mit Stoppelhaar, sie in bequemen Sachen, die allerdings viel von einer sehr beweglichen Brust zeigen.

Militärisches Sperrgebiet. Die üblichen Schilder drohen mit Schußwaffengebrauch, ich entdecke den Zaun und die Warnungen erst, als ich wahllos zwischen die Bäume fotographiere und aus einem vorbeifahrenden Lieferwagen verblüfft angestarrt werde. Schließlich zweigt die Straße des Friedens ab, eine kleine DDR-Siedlung mit glatten zweistöckigen Neubauten. Nach einer Weile ein Sackgassen-Schild, das mich lockt. Ich hoffe auf einen Park- und Wendeplatz, auf dem nur ein einzelner vergessener Opel wartet, und dahinter: Nur trockene Gräser. Es ist aber immer noch nicht ganz still, ich höre eine Straße donnern. Und wirklich, die Enttäuschung folgt: Wieder Häuser zwischen den Bäumen mit einer Straße von irgendwo anders. Ich kehre um.

Bei der zweiten Begegnung schaue ich mir das verfallende Anwesen genauer an und entdecke, direkt am Bahndamm, einen kleinen Weg, der am Zaun entlang führt und direkt hinein in die Zone.

Die Zone. Ein Feuerlöscher, der nie ein Feuer löschen wird.

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Die Zone. Das rätselfhafte Anwesen, Rückansicht.

Ich kann fast ganz um das Anwesen herumgehen — zwei große Häuser und einige kleine Ziegelbauten, ein Teich, gespeist von einem Rinnsal, das unter der Bahn durchkommt, in der Mitte von etwas, das einmal ein Park gewesen sein könnte. Ich will das kaufen. Ich überlege, wieviel ich verdienen müsste und was man damit anfangen würde. Strausberg. Zu weit weg von Berlin, um hier häufig Berliner zu Gast zu haben. Andererseits nahe genug, wenn man nicht täglich in die Stadt muß und nur in Ruhe zu Ende leben will, und ab und zu ein Fest mit Lampions feiern.

Vermutlich gehört es einem irren westdeutschen Investor, der vom Dornröschenschlaf fiemelt und dem ein Hotel im Waldschlößchen vorschwebt oder gleich ein Spaßbad.

Hinter der Zone beginnt der Wald. Richtiger Wald, laublos noch, über den unvertraute Enten ziehen, die machen Geräusch. Mit jedem Schritt wird es stiller. Ich biege zweimal nach Laune ab immer dorthin, wo es einsamer aussieht. Eine kurze, surreale Begnung mit einem Moped. Dann wieder nur noch Enten und Wald. Ein Wald ist ein Ort für Dinge, die nur einmal geschehen.

(Unsere vielleicht mediale Angewohnheit, die Bühne sauberzumachen für weitere Aufführungen desselben Stücks. In der Serie glaubt der Konsument, sich an der Neuheit der Geschichte zu erfreuen, während er faktisch die Wiederkehr eines konstanten narrativen Schemas genießt. Umberto Eco, Die Innovation im Seriellen)

Einmalgeschichten also. Die Seltsamkeit Wald. Wo die Menschen nicht wohnen. Der Rest Stadtdröhnen verschwindet ganz, schließlich wird es lichter, und lichter, und endlich geht der Blick auf in die Weite: Kraftort.

Kraftort. Windräder.
Kraftort. Industrie.

Lautlos drehen sie sich, meine Freunde, dort, wo die S-Bahn nicht mehr hinfährt. Und lautlos zieht der Rauch aus dem fernen Schornstein nach Polen.


[Strausberg. Wald. Die beiden letzten Bilder zeigen den Blick aus der Kartenmitte nach Südsüdost.]