Ich frage mich, ob Baudrillard jemals in München war. Natürlich ist es müßig, über das Artifizielle dieser Stadt zu schreiben, und natürlich ist es unmöglich, absolute Standortbestimmung betreiben, in welcher möglichen Welt auch immer, ist doch alles immer nur Su(b)je(k)t und nie mehr als konstruierte Position, Behauptung und Erzählung. Trotzdem – mehr ist nicht da, selbst wenn die Pfade einmal nicht verschneit sind. Wir hangeln immer nur in der Leere umher und setzen willkürlich Fahnen ins Grün. Oder berühren die Tatzen metallener Löwen nahe Kirchen, Parks und botanischer Gärten, unter weißblauem Himmel.

Von diesem gleißt die Sonne hinab und vor der Theatinerkirche schreit eine Frau umher, doch selbst diese Art der obligatorischen Stadterscheinung wirkt hier nicht authentisch, sondern viel zu gut gekleidet, viel zu professionell in der Performanz des Zeterns und damit viel zu verstörend im diskursiven Ensemble dieser wahrlich barocken Theatermaschinerie. [Siehe dazu auch Freud und die hölzernen Krokodile im dunklen Wohnzimmer.]

Im Franziskaner Weißbierhaus saßen kurz zuvor am gleichen Tag drei statt zwei kleine Italiener, die exakt so, wie man es erwarten würde, die bedirndelte Bedienung anraunzten, warum denn keine italienischsprachige Speisekarte vorhanden sei – welche diese dann natürlich umgehend reichte. Die drei kleinen Italiener trugen rot-weiß geringelte Mohairpullover, Pilotensonnenbrillen und mehr Gel als Haar; bestellten dann drei Halbe. Natürlich.

In der Vorhalle des Hauses der Kunst muss man aufpassen, nicht auf die Hände der Menschen zu treten, die auf allen Vieren aus den bis zu hausgroßen, rosa maikäferförm- und mustrigen Installationen der japanischen Künstlerin Yayoi Kusama heraus- und in sie hineinkrabbeln; in den restlichen Räumen muss man aufpassen, nicht irrtümlich zu denken, dass man sich in die Wanddekorationsabteilung eines bekannten schwedischen Möbelhauses verlaufen hätte. Und dies gar nicht einmal ob der vielen Kinderwagen und Luftballons.

Fragt man im Museumsshop nach dem Bildband „Die totale Erinnerung“ von Christian Kracht, Eva Munz und Lukas Nikol, erhält man leider eine negative Auskunft. Geht man kurz darauf erneut zu dem jungen adretten Studenten hinter der Kasse, um nach etwas Gebundenem von Erik Niedling zu fragen und den gerade erschienen Foucault-Leseband „Ästhetik der Existenz“ zu bezahlen, teilt er einem freudig mit, dass soeben Benjamin von Stuckrad-Barre hier gewesen sei und Christian Kracht ja vor zwei Wochen. Daraufhin kann man anerkennend nicken und sich eine Papiertüte geben lassen.

In der Pinakothek der Moderne stehen zurzeit sehr viele Neonröhren umher und versuchen, einen Eindruck zu erwecken, über den es sich noch nicht einmal nachzudenken lohnt. Immerhin erzeugen sie Licht. In verschiedenen Farben. Schönstes Mitbringsel aus der größten Freiluftaufführung aller Zeiten [siehe hierzu: Jogging mit Vuitton-Halstuch am Isarufer] jedoch ist ein Druck von Frank Schäpel, den mir die Direktorin einer recht renommierten Galerie nahe des Odeonsplatzes vermachte und der nun gewissenhaft gerahmt eine meiner ansonsten sehr kahlen Wände ziert.

Abschließend eine Bitte: Raten Sie doch einmal, in welcher deutschen Stadt sich das Institut für angewandte Simulation befindet?

Immer, wenn ich in Osnabrück ankomme, mache ich den selben Orientierungsfehler. Vom Bahnhof gehe ich zu Fuß zum Neumarkt, um von dort den Bus zu nehmen. Das ist der ganze Plan – die Details, das weiß ich, kann ich vor Ort auflösen. Wie die richtige Linie heißt und den Namen meiner Haltestelle merke ich mir nie, das finde ich heraus, wenn ich am Neumarkt die Fahrpläne lese. Das funktioniert zuverlässig.

Den Fehler mache ich, weil ich vom Neumarkt doch noch zum Heger Tor zu Fuß zu gehen beschließe. Um die Katharinenkirche herum unterläuft mir ein 90°-Dreher, ich stoße, überrascht, senkrecht auf den Heger-Tor-Wall und muß mich ohne weitere Informationen für eine Richtung entscheiden, es ist fifty-fifty und ich irre mich natürlich.

In dieser Stadt befindet sich mein Gehirn ohnehin im Selbstanalysemodus. Es formuliert deswegen den Satz „Immer, wenn ich in Osnabrück ankomme, mache ich den selben Orientierungsfehler“, den ich im Lauf der nächsten vier Stunden dreimal aussprechen werde. Allerdings gelingt es mir nicht herauszufinden, wie der Fehler passiert. Es hat, vermute ich, damit zu tun, daß ich mit der Katharinenkirche als Landmarke zu navigieren versuche und daß sie nicht so zwischen Heger Tor und Neumarkt steht, wie ich das, offenbar unwiderruflich, abgespeichert habe.

Das Gebäude, einmal aufgespürt, ist braun, 6 Stockwerke hoch und kreuzförmig, also punktsymmetrisch. In der Mitte sind die Treppenhäuser, derer es vier gibt. In jedem Stockwerk ist, wenn man von unten kommt, nicht die Treppe des Balkens sichtbar, den man gerade im Rücken hat, vielmehr scheint die Treppe schräg gegenüber der kürzeste Weg zu sein, und so dreht man sich also auf jeder Etage um π halbe und geht zwischen den Etagen im Halbkreis die Treppe noch. Spätestens im zweiten Stock hat man jede Orientierung verloren. Die gutgemeinten DIN A4s mit Pfeilen und Himmelsrichtungen helfen auch nicht weiter, wenn man keine Karte im Kopf hat. Es ist hoffnungslos. Das Ziel lautet deswegen, durch kontrolliertes Herumirren die Tafel zu finden, auf der, seit ich sie kenne, π = 3 für kleine π und große 3 steht. Da ist es dann.

In der Neuroblopsychologie bekomme ich von vier Doktoranden jeweils 15 Minuten Zeit, um mir Momentaufnahmen ihrer Arbeit zeigen zu lassen. Biologen, Physiker, Informatiker. Die Jungs sind mindestens 20% schneller als die Welt draussen. Innert 3 Minuten bin ich überfordert und habe Spaß. Dran bleiben, nicht zum Fenster sehen, nicht wahrnehmen, was er für Musik in seinem iTunes hat, nicht einfach nur abnicken, oder vielleicht doch erstmal nicken, es wird sich gleich klären, aber aufpassen, denn wenn es sich nicht klärt: unbedingt backtracken und doch nachfragen.

Ich habe keine Ahnung von Wetware. Es gibt zu viel Vernetzung im visuellen Kortex für ein bisschen lokale Feature-Extraktion, wozu sind die vielen langen Verbindungen gut? — ich versuche, auf eine Idee zu kommen, die der Mann vor vier Jahren auch hatte, als man ihm zum ersten mal von der Sache erzählt hat. Ich will nicht seine Zeit stehlen, der soll sehen, daß es sich lohnt, mir das zu erklären.

I can see why you’re not doing this in humans. Sie haben ein Recording-Verfahren, bei dem Chemikalien ins Gehirn gegeben werden, die präzise und zeitlich hochaufgelöst neuronale Aktivität anzeigen, viel aufregender als das langsame fMRI, das man bei Menschen verwendet.

Wenn man Testpersonen Bilder von Natur oder Gesichtern zeigt, in denen einzelne Stellen künstlich leicht aufgehellt oder abgedunkelt wurden, finden die Testpersonen diese Stellen beim ersten Hinsehen (sie schauen sofort unwillkürlich an die interessante Stelle.) Es geht so schnell, daß man vermuten darf, daß die low-level-Verarbeitung selbst die Aufmerksamkeit dirigiert.
Bei fraktalen Bildern allerdings tritt der Effekt nicht auf. Je mehr man die Fraktale aber verrauscht, desto stärker kommt er zurück. Frage: Was ist da los?

Und dann gibt es noch die zwei, die kenne ich schon, hallo! mensch! — die kriegen jetzt den Gürtel. Der Gürtel heißt eigentlich Feelspace und funktioniert so: Man trägt einen Kompass-Gürtel, der die aktuelle Ausrichtung im Raum per Vibration an die Haut überträgt. Nach einigen Wochen fängt das Gehirn an, die Information, quasi als neue sensorische Modalität (nämlich absolute Raumorientierung) auszuwerten. Ohne daß die Gürtelträger genau sagen könnten, wie sie es machen, schneiden sie bei Navigationstasks besser ab als wir Nicht-Cyborgs. Diverse Leute am Lehrstuhl, der Chef eingeschlossen, haben den Gürtel getragen, können sich aber, so hieß es damals, nur untereinander einigermaßen darüber unterhalten, wie es ist.

Osnabrück, das Zentrum im Osnabrücker Land, wie das Schild am Bahnhof bis vor kurzem noch trocken feststellte, ist meiner Heimatstadt nicht unähnlich, nur etwas größer und norddeutscher. Gymnasiasten helfen aus innerem Bedürfnis den Fremden bei der Busauswahl. Die älteren Herren stecken alle in aktuellen Audis und gutgepflegten Wachsjacken, die jüngeren Frauen tragen allesamt Jeans, hübsche Sneakers und Frisuren, die nicht nur ihren Eltern gefallen.
Allerdings gibt es auch eine bemerkenswerte Konzentration von Livekabinen, Liebesshops und unauffälligen Clubs mit dubiosen Namen. Gleich wollen mir die leicht überakkurat gekleideten Silberschöpfe, die zwischen Neumarkt und Bahnhof zu Fuß unterwegs sind, etwas unheimlich erscheinen.


[Osnabrück Westerberg]

Die Kamtschatkakrabbe kann, wenn man sie zu einem Spagat nötigt, von Bein zu Bein bis zu zwei Meter messen und rund zwölf Kilogramm schwer werden. Norwegische Fischer zogen 1977 das erste Exemplar aus skandinavischen Gewässern und glaubten, eine Mutation sehe sie über hektisch bewegte Beiß- und Greifwerkzeuge hinweg an.

Ursprünglich wurde die Kamtschatkakrabbe in den sechziger Jahren von sowjetischen Forschern in der Barentssee angesiedelt, um die Nahrungsmittelversorgung der russischen Flotte im Baltikum zu sichern. Mittlerweile hat sie sich in alle ihr möglichen Richtungen ausgebreitet und ist bis zur Nordspitze der norwegischen Lofoten vorgedrungen. Die geschätzte Population vor der dortigen Küste beläuft sich auf zurzeit 2,6 Millionen Exemplare.

Für die lokale Fischereiindustrie, die unter extremem, in Überfischung begründetem Fischmangel leidet, ist die Kamtschatkakrabbe ein Geschenk. Im Geschmack zwischen Hummer und Garnele liegend, liegt der Erlös pro Kilogramm bei bis zu 63 Euro. 70 bis 80 Prozent des für den restlichen Exportanteil bereits industriell abgekochten und daher rot gefärbten Fangs gehen nach Japan – dorthin allerdings roh. Der Japaner kocht lieber selbst.

Als kleine verwachsene Schwester der marktwirtschaftlichen Begeisterung zeigt sich die Frage nach den ökologischen Folgen der Krustentierwanderungen. Momentan ist nur bekannt, was die Kamtschatkakrabbe auf Muschelbänken anrichtet. Sie frisst sie leer. Und verspeist so die Lebensgrundlage von Seestern, Seegurke oder Wellhornschnecke. Oder isst sie direkt mit. Die Kamtschatkakrabbe nimmt so ziemlich alles zu sich, was am Meeresboden lebt. In ihrem Magen findet man Überreste von Muscheln, Würmern, Algen, Schnecken und mittelgroßen Fischen.

Das macht sie zu einem harten Nahrungskonkurrenten für viele immer seltener werdende Edelfische. Im Vergleich zu diesen kann sie mit relativ geringem Aufwand gefangen werden. Wenn die Bedingungen gut sind, schöpft ein norwegischer Fischerbootbesitzer seine Fangquoten in nur zwei Tagen aus. Man kann die Kamtschatkakrabbe in wenigen Metern Tiefe finden oder in 300 Metern. Auf dem Echolot sieht man sie nicht, weil sie auf dem Meeresboden hocken. Manche sagen, sie sind wie ein Teppich – über den ganzen Boden ausgebreitet.

Ein kategorisches Ausrotten der Kamtschatkakrabbe, wie es Umweltschützer fordern, ist für die Regierung in Oslo keine Option. Zudem ist es fraglich, ob ein solches Vorhaben überhaupt gelingen kann. Es werden nur zehn Prozent einer Population gefangen, die kleinen Kamtschatkakrabben und ihre Larven fallen durch die Netze.

Die gemeinsame Fischereikommission von Norwegen und Russland hat die Fangquote 2006 zum wiederholten Mal verdoppelt. Eine norwegische Firma will die Tiere zukünftig in russischen Fjorden züchten.

Die Kamtschatkakrabbe hat keine natürlichen Feinde.

Wir betraten also das Mainzer Museum für antike Schifffahrt. Ein nicht zu vernachlässigender Faktor bei der Entscheidung zum Eintritt war, daß das Museum für antike Schifffahrt unter Mainzer Studenten dafür bekannt ist, eine saubere und kostenfrei nutzbare Toilette zu führen. Es ließ sich wohl nicht vermeiden, daß wir, einmal eingetreten, uns für antike Schifffahrt zu interessieren begannen.

Der Besuch eines Museums empfiehlt sich grundsätzlich in Begleitung einer Frau, die man begehrt. Geschlechtliche Schwerkraft gewinnt einen besonderen Charakter, wenn sie gerade unangemessen ist, dabei aber Raum und Ruhe hat, sich auszubreiten und bemerkbar zu machen. Der lockende Körper, unerreichbar versunken in die Betrachtung der Plankenreste eines römischen Schiffes, ist dabei aller eigentlich sexuellen Anziehung entkleidet, man kann wohl keine Holzbrösel anschauen und scharf aussehen, das geht nicht, die Schwerkraft des Geschlechts wirkt sanfter: Unvorstellbar, daß Nacht wäre — jedoch: Ein unsichtbares Gummiband dehnt und entspannt sich, wenn man neben den im Museum hergezeigten Gegenständen noch jemanden im Blick zu halten versucht. Man bewegt sich nicht frei, sondern bezogen auf ein zweites Interesse, das heilig ist und nicht gestört werden darf in seinem Körper. (Lebendig, Unspezifisches verheißend, jedenfalls aber klar auf dieser Seite der Kordel, also auch beruhigend.)

Das Trierer Weinschiff ist leider hässlich. Abscheuliches Ding. Dafür kann das Museum nichts, was soll es anfangen mit dem proto-rheinfrohsinnigen Unsinn, er muß wohl gezeigt werden. Man kann dem Mainzer Museum für antike Schifffahrt nicht vorwerfen, sich der Verpflichtung nicht zu stellen, die aus der Tatsache erwächst, daß beim Bau des Hilton Schiffe erschienen, wo Keller werden sollte. Nein, das Mainzer Museum für antike Schifffahrt gibt sich wirklich Mühe. Besser kann man es nicht machen.

Das römische Stadttor liegt in einem Loch auf dem Berg. Um das Loch herum stehen postmoderne Bauten. (Beim Bau der postmodernen Bauten vor 20 Jahren gruben sie das Tor aus und konservierten die Grube.) In den postmodernen Bauten leben Familien; Kinder haben Tiere aus Tonpapier geklebt, allerdings in unwahrscheinlicher Präzision, Eltern sind so leicht zu täuschen. In den Fenstern kann man die Pappen sehen. Wenn das grüne Tonpapier lange genug in der Sonne bleibt und bleicht, nähert es sich dem Ton der gut schließenden Kunststoff-Fensterrahmen der postmodernen Häuser an. Die sehr strukturierte Siedlung — die Nachbarschaft funktioniert, denke ich, sicher gut — endet in einer klaren Front: Blick über Mainz. Die Wohnungen mit Blick sind etwas größer und teurer. Dort ist der Dom. Neben dem Eingang des postmodernen, farbig rohrverzierten Hauses mit Blick über die Stadt: Eine Bronzetafel. In diesem Haus lebte und arbeitete etc etc von bis 1927.


[Mainz Kästrich]

Der materiefreie Verweis (man schreibe nicht: a href) ist dem materiellen zumindest gelegentlich durchaus überlegen: Bleibt er doch lange im Schwebezustand und rastet nur unter flüchtigen Bedingungen ein.

Rastet er nicht, wahrt er das Geheimnis; rastet er doch, spendet er das sanfte Glück des Wiederfindens.

[Unter die Yak- und Brühe-Buttons]

Apropos Delphin: Ich bin immer noch der festen Überzeugung, kürzlich Delphine Claire Belriane Seyrig im Südflügel des Querhauses der Abteikirche des Klosters Cluny umherspazieren gesehen zu haben, gekleidet wie in der Rolle der Fabienne Tabard, die sie in Truffauts 1968 entstandenen „Baisers volés“ spielte, was ich weitaus verwunderlicher finde als das ausgewachsene Pferd, das mich kurz zuvor aus dem Wohnzimmerfenster eines der die Zufahrtsstraße zum Klostergelände säumenden Häuser heraus anschaute, glasigen Auges, da Delphine Claire Belriane Seyrig schließlich bereits im Jahre 1990 in Paris, ganz natürlich und folgerichtig, an Lungenkrebs verstorben ist. Große Teile der Klosterkirche, deren dritte und letzte Version bis zu diesem Zeitpunkt das größte und exzessivste romanische Sakralgebäude der Welt darstellte, wurden hingegen bereits 1810 im Zuge der napoleonischen Profanisierungsbemühungen gesprengt und als Steinbruch für den Bau einer nationalen Pferdezucht genutzt. Was für einen Hallraum bitteschön macht das denn auf?

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Wir hatten Quartier in Babel genommen. Zwei Schuhkartonzimmer mit offen liegender Elektrik, unterm Dach, gut 50 Meter über der Straße, dabei unterhalb der Traufkante der meisten umstehenden Häuser. Über einem rußschwarzen Schacht vom Durchmesser einer Kücheneckbank konnten wir uns durch winzige Fenster Zigaretten reichen.
Links arbeitete ein ägyptischer Schneider, gegenüber führte ein nigerianischer Exporteur von Haushaltswaren aus Plastik sein Geschäft und von irgendwo her wären auch exotischere Drogen zu beschaffen, waren wir sicher, als wir den sehr schmalen Spanier im Fahrstuhl trafen, der nervös an seinem verschorften linken Handrücken rieb.

Das Babel dieser Stadt war geteilt, ein kurzer Block lag zwischen den beiden Türmen. Dort hatte ich vor wenigen Tagen gelernt, weshalb sich Menschen nach Diamanten sehnen. Nie zuvor hatte ich ein solches Strahlen gesehen, wie es aus dem Schmuck in den Schaufenstern der Juweliere auf das Stück Straße zwischen den Türmen brach. Musste ein besonderes Licht gesetzt werden, ähnlich dem in Fleischauslagen, um diesen Glanz zu erzeugen? Brachten die Steine ihn unter jedem Licht hervor? Vielleicht auch ganz von selbst? Zum ersten Mal in meinem Leben wollte ich ein Diamantkollier besitzen. Gegebenenfalls auch eine passende Lampe.

Stattdessen hatte ich am Nachmittag ein Jacket gekauft, das in Schnitt wie Textur den gekochten Wollsachen ähnelte, die Comme des Garcons um die Mitte der 1990er herausbrachte. Die grobe thermische Behandlung hatte den Stoff irreversibel verknüllt, die Eiweißketten waren verklumpt und verzogen und lagen nun kreuz und quer auf mir. Ich fühlte mich in diesem Jacket nicht wie in Kleidung. Mehr wie von einem Tier mit Fäden warm umsponnen, in einer Hülle viel eher als unter einer Schicht. Ich fühlte mich so gut wie sehr lange nicht mehr.

Die neue entropische Jacke trug ich, als wir gegen 21 Uhr unsere Zimmer verließen um von Babel II hinüber nach Babel I zu gehen. Das indische Restaurant auf Ebene 3 des Block G hatte „Members only“ an die Tür geschlagen. Auf unser Klingeln öffnete ein junger Mann und wies uns einen Tisch nahe am Rand des etwa 70 Quadratmeter großen fensterlosen Zimmers zu, unmittelbar neben der offenen Spülküche. Um uns Einheimische um die zwanzig, viele junge Männer in dem Emo-Look den ich während der letzten Wochen lieben gelernt hatte, nahezu alle Plätze waren besetzt. Sie trugen meist schwarz und ausnahmslos schöne Brillen. Wie sie begannen wir laut zu sprechen und schnell zu essen. Daniel suchte aus, ich wollte mich nicht darum kümmern. In Indien, sagte er, würde man sehr schnell sehr dick, denn alles andere als essen sei dort sehr unangenehm.

Das hier war nicht Indien. Wir tranken das Bier, das wir seit Wochen tranken, wie stets aus Wassergläsern, rauchten Mentholzigaretten aus Japan, sprachen über die Eigenheiten der Schinkengasse auf der Inselseite der Stadt, fragten uns, ob die Straße unten noch voller von Menschen geworden sein mag und was wir mit ihnen gemeinsam zu erwarten hätten. Wir bezahlten ungefähr nichts für hervorragendes Essen. In eineinhalb Stunden würde das neue Jahr beginnen.

Unten wäre es nun doch wie dort, sagte Daniel, als wir herauskamen. Dicht drängten die Menschen in Richtung der Fähre und des Museumsareals. Wer nicht gehen konnte, hätte sich gefahrlos tragen lassen können. The invention of street diving. Dabei war es kaum lauter als im Restaurant.

Zwei Blöcke entfernt hatten wenige Stunden zuvor Atomic Kitten vom Dach der Mall, in der ich meine Jacke gekauft hatte, gespielt. Wir gingen leicht schief rechts geneigt, die Menge trug uns weich in die zur Mall führende Seitenstraße.
Am Sheraton stoppte der Fluss. Die Menschen hier waren wie die im Restaurant. Einige schauten die Hotelfassade hinauf und riefen „Ah!“. Dann schauten auch die anderen. Alle schauten, auch wir schauten. Es gab nichts zu sehen. Noch mehr riefen „Ah!“

Wir drängten weiter, um die Ecke, zum Wasser hin. Hier nun war es plötzlich leerer. Minuten zuvor hatte es Daniel abgelehnt, sich umzuschauen. Die Massen, sagte er, mochten in ihm einen klaustrophobischen Schub auslösen, wenn er sie nicht nur vor sich, sondern auch mögliche Rückwege verstellend sehen würde. Nie zuvor hatte ich von ihm gehört, dass er diese Veranlagung besäße und blieb deshalb völlig sorglos. In diesen Tagen sagten wir häufig solche Dinge, weil wir als die, als die wir hier herkamen, nicht hätten bleiben können.

Hinter uns lag eine Lücke der Straßenvergitterung einer Polizeisperre, vor uns das von weiteren Gittern versperrte Museumsareal, dahinter die Meerenge, auf deren anderer Seite lief die erleuchtete Skyline vor einem beträchtlichen Berg entlang. Am Nachmittag waren wir im Taxi hinaufgefahren, hatten hinuntergeschaut von dem beträchtlichen Berg auf die Skyline, von nur wenig oberhalb ihrer höchsten Häuser. Daniel trank stilles Wasser und aß wie stets Zitronentarte, ich trank Kaffee und las Wallpaper. Es war die einzige Illustrierte, die Starbucks hatte.

Hier an der Uferseite des Sheraton waren wir nun allein. Die vor dem Hotel verlaufende sechs- oder auch nur vierspurige Straße war von drei Seiten abgeriegelt, die vierte bildete das Hotel. Offenbar hatten uns nur die Unaufmerksamkeit des Wachpersonals und unsere naive Chuzpe das Areal betreten lassen. Am nächsten Tag würden wir in der Zeitung lesen, dass 360.000 Menschen hier an die Südspitze der Halbinsel gekommen waren und wir würden uns über die seltsame Genauigkeit dieser Schätzung wundern. Hierher waren sie nicht gekommen. Polizisten adressierten durch Megaphone vage warnend klingende Durchsagen an die Massen. Der starke, milde Wind trieb Baustellensand umher. Alle zusammen warteten wir auf das neue Jahr und das grandiose Feuerwerk über der Skyline.

Die Menge begann zu zählen. „Ten. Nine..“ Weit vor „One“ verebbte der Chor, setzte nach einer guten Minute erneut an, ging in Murmeln unter. Sollen sie zählen, sagten wir. Erst das Feuerwerk würde das neue Jahr sicher markieren.
Die Anzeige von Daniels Uhr erlaubt kein minutengenaues Ablesen der Zeit. Sie zählten schon wieder. Jetzt kamen sie durch bis zum Jubel nach „One“. Ein einzelner roter Luftballon flog über die leere Straße. Nun würde also das Feuerwerk beginnen.

Wir stießen mit dem Dosenbier an, an dem wir seit einer knappen halben Stunde tranken und waren froh, allein zu sein. Nicht nur weg von der Menge. Wir tranken weiter in kleinen Schlucken und schauten auf die diamantenen Hochhäuser am anderen Ufer. Daniels Uhr war nun 0:10 erkennbar näher als Mitternacht. Es würde, verstanden wir, kein Feuerwerk geben.

Mein Jacket war warm für die Nacht. Sollten wir nach einer Stroboskopfunktion an unseren Kameras suchen? Sollten wir anderen Ersatz für das Feuerwerk finden? Sollten wir mit der Fähre zur Schinkengasse auf der Insel übersetzen und uns mit den I-Bankern und Studenten betrinken? Sollten wir? Bleiben?

Hier war der Grund des Sees, um uns der Strudel. Niemand braucht Feuerwerk am Grund des Sees. Niemand braucht Feuerwerk. Niemand braucht irgendetwas, wenn er trocken und warm im Strudel auf dem Grund des Sees steht und Dosenbier hat.

Die Straßen hinter den Absperrungen leerten sich rasend schnell, der See lag trocken. Zurück im Schuhkarton, wird der Auftritt von Atomic Kitten im Fernsehen wiederholt. Selten war kein Feuerwerk schöner.

[Hong Kong, 31 Dec 2006]

Ich habe also gleich beim ersten Besuch der Webseite einiges gelernt, und zwar über die Transformation von LEGO, die tatsächlich zeitgemäßer kaum sein könnte.

Lange ist ja bekannt, daß Adidas durchaus keine Schuhe herstellt, sondern Gedanken über Schuhe und drei Streifen. LEGO geht einen Schritt weiter und stellt nicht nur keine Steine, sondern auch keine Gedanken über Steine mehr her: Die Produkte werden, so lautet die Ansage, fortan von den Kunden entwickelt. Das kann fast nur LEGO machen — wie großartig! Man versteht sich als open source company.

Was bleibt, ist nicht viel mehr als eine extrem leichte und bewegliche Marke. LEGO wird zu einer reinen Idee unter Management. Es ist, als wechsle das Unternehmen in die Modebranche.

[Ich wusste es ja schon immer™]

„Seit je her faszinieren Delfine die Menschen. Sie werden wegen ihrer Intelligenz und ihrer Friedfertigkeit geschätzt. So werden Sie sogar zur Behandlung von psychisch kranken Kindern eingesetzt (Delfintherapie). Was liegt daher näher, als diese Vielfalt an postiven Eigenschaft in einem Produkt zu vereinen, welches Sie überall, zu jeder Zeit zu Ihrem persönlichen Glück einsetzen können?
Gemeinsam mit führenden Pharmaunternehmen haben wir uns das Ziel gesetzt, diese Vorhaben für Sie zu realisieren. Herausgekommen ist die zahlreich prämierte und von der Presse hochgelobte Delfinflossenseife!“

[Am Ende der Nahrungskette]