Ich frage mich, ob Baudrillard jemals in München war. Natürlich ist es müßig, über das Artifizielle dieser Stadt zu schreiben, und natürlich ist es unmöglich, absolute Standortbestimmung betreiben, in welcher möglichen Welt auch immer, ist doch alles immer nur Su(b)je(k)t und nie mehr als konstruierte Position, Behauptung und Erzählung. Trotzdem – mehr ist nicht da, selbst wenn die Pfade einmal nicht verschneit sind. Wir hangeln immer nur in der Leere umher und setzen willkürlich Fahnen ins Grün. Oder berühren die Tatzen metallener Löwen nahe Kirchen, Parks und botanischer Gärten, unter weißblauem Himmel.
Von diesem gleißt die Sonne hinab und vor der Theatinerkirche schreit eine Frau umher, doch selbst diese Art der obligatorischen Stadterscheinung wirkt hier nicht authentisch, sondern viel zu gut gekleidet, viel zu professionell in der Performanz des Zeterns und damit viel zu verstörend im diskursiven Ensemble dieser wahrlich barocken Theatermaschinerie. [Siehe dazu auch Freud und die hölzernen Krokodile im dunklen Wohnzimmer.]
Im Franziskaner Weißbierhaus saßen kurz zuvor am gleichen Tag drei statt zwei kleine Italiener, die exakt so, wie man es erwarten würde, die bedirndelte Bedienung anraunzten, warum denn keine italienischsprachige Speisekarte vorhanden sei – welche diese dann natürlich umgehend reichte. Die drei kleinen Italiener trugen rot-weiß geringelte Mohairpullover, Pilotensonnenbrillen und mehr Gel als Haar; bestellten dann drei Halbe. Natürlich.
In der Vorhalle des Hauses der Kunst muss man aufpassen, nicht auf die Hände der Menschen zu treten, die auf allen Vieren aus den bis zu hausgroßen, rosa maikäferförm- und mustrigen Installationen der japanischen Künstlerin Yayoi Kusama heraus- und in sie hineinkrabbeln; in den restlichen Räumen muss man aufpassen, nicht irrtümlich zu denken, dass man sich in die Wanddekorationsabteilung eines bekannten schwedischen Möbelhauses verlaufen hätte. Und dies gar nicht einmal ob der vielen Kinderwagen und Luftballons.
Fragt man im Museumsshop nach dem Bildband „Die totale Erinnerung“ von Christian Kracht, Eva Munz und Lukas Nikol, erhält man leider eine negative Auskunft. Geht man kurz darauf erneut zu dem jungen adretten Studenten hinter der Kasse, um nach etwas Gebundenem von Erik Niedling zu fragen und den gerade erschienen Foucault-Leseband „Ästhetik der Existenz“ zu bezahlen, teilt er einem freudig mit, dass soeben Benjamin von Stuckrad-Barre hier gewesen sei und Christian Kracht ja vor zwei Wochen. Daraufhin kann man anerkennend nicken und sich eine Papiertüte geben lassen.
In der Pinakothek der Moderne stehen zurzeit sehr viele Neonröhren umher und versuchen, einen Eindruck zu erwecken, über den es sich noch nicht einmal nachzudenken lohnt. Immerhin erzeugen sie Licht. In verschiedenen Farben. Schönstes Mitbringsel aus der größten Freiluftaufführung aller Zeiten [siehe hierzu: Jogging mit Vuitton-Halstuch am Isarufer] jedoch ist ein Druck von Frank Schäpel, den mir die Direktorin einer recht renommierten Galerie nahe des Odeonsplatzes vermachte und der nun gewissenhaft gerahmt eine meiner ansonsten sehr kahlen Wände ziert.
Abschließend eine Bitte: Raten Sie doch einmal, in welcher deutschen Stadt sich das Institut für angewandte Simulation befindet?
Immer, wenn ich in Osnabrück ankomme, mache ich den selben Orientierungsfehler. Vom Bahnhof gehe ich zu Fuß zum Neumarkt, um von dort den Bus zu nehmen. Das ist der ganze Plan – die Details, das weiß ich, kann ich vor Ort auflösen. Wie die richtige Linie heißt und den Namen meiner Haltestelle merke ich mir nie, das finde ich heraus, wenn ich am Neumarkt die Fahrpläne lese. Das funktioniert zuverlässig.
Den Fehler mache ich, weil ich vom Neumarkt doch noch zum Heger Tor zu Fuß zu gehen beschließe. Um die Katharinenkirche herum unterläuft mir ein 90°-Dreher, ich stoße, überrascht, senkrecht auf den Heger-Tor-Wall und muß mich ohne weitere Informationen für eine Richtung entscheiden, es ist fifty-fifty und ich irre mich natürlich.
In dieser Stadt befindet sich mein Gehirn ohnehin im Selbstanalysemodus. Es formuliert deswegen den Satz „Immer, wenn ich in Osnabrück ankomme, mache ich den selben Orientierungsfehler“, den ich im Lauf der nächsten vier Stunden dreimal aussprechen werde. Allerdings gelingt es mir nicht herauszufinden, wie der Fehler passiert. Es hat, vermute ich, damit zu tun, daß ich mit der Katharinenkirche als Landmarke zu navigieren versuche und daß sie nicht so zwischen Heger Tor und Neumarkt steht, wie ich das, offenbar unwiderruflich, abgespeichert habe.
Das Gebäude, einmal aufgespürt, ist braun, 6 Stockwerke hoch und kreuzförmig, also punktsymmetrisch. In der Mitte sind die Treppenhäuser, derer es vier gibt. In jedem Stockwerk ist, wenn man von unten kommt, nicht die Treppe des Balkens sichtbar, den man gerade im Rücken hat, vielmehr scheint die Treppe schräg gegenüber der kürzeste Weg zu sein, und so dreht man sich also auf jeder Etage um π halbe und geht zwischen den Etagen im Halbkreis die Treppe noch. Spätestens im zweiten Stock hat man jede Orientierung verloren. Die gutgemeinten DIN A4s mit Pfeilen und Himmelsrichtungen helfen auch nicht weiter, wenn man keine Karte im Kopf hat. Es ist hoffnungslos. Das Ziel lautet deswegen, durch kontrolliertes Herumirren die Tafel zu finden, auf der, seit ich sie kenne, π = 3 für kleine π und große 3 steht. Da ist es dann.
In der Neuroblopsychologie bekomme ich von vier Doktoranden jeweils 15 Minuten Zeit, um mir Momentaufnahmen ihrer Arbeit zeigen zu lassen. Biologen, Physiker, Informatiker. Die Jungs sind mindestens 20% schneller als die Welt draussen. Innert 3 Minuten bin ich überfordert und habe Spaß. Dran bleiben, nicht zum Fenster sehen, nicht wahrnehmen, was er für Musik in seinem iTunes hat, nicht einfach nur abnicken, oder vielleicht doch erstmal nicken, es wird sich gleich klären, aber aufpassen, denn wenn es sich nicht klärt: unbedingt backtracken und doch nachfragen.
Ich habe keine Ahnung von Wetware. Es gibt zu viel Vernetzung im visuellen Kortex für ein bisschen lokale Feature-Extraktion, wozu sind die vielen langen Verbindungen gut? — ich versuche, auf eine Idee zu kommen, die der Mann vor vier Jahren auch hatte, als man ihm zum ersten mal von der Sache erzählt hat. Ich will nicht seine Zeit stehlen, der soll sehen, daß es sich lohnt, mir das zu erklären.
I can see why you’re not doing this in humans. Sie haben ein Recording-Verfahren, bei dem Chemikalien ins Gehirn gegeben werden, die präzise und zeitlich hochaufgelöst neuronale Aktivität anzeigen, viel aufregender als das langsame fMRI, das man bei Menschen verwendet.
Wenn man Testpersonen Bilder von Natur oder Gesichtern zeigt, in denen einzelne Stellen künstlich leicht aufgehellt oder abgedunkelt wurden, finden die Testpersonen diese Stellen beim ersten Hinsehen (sie schauen sofort unwillkürlich an die interessante Stelle.) Es geht so schnell, daß man vermuten darf, daß die low-level-Verarbeitung selbst die Aufmerksamkeit dirigiert.
Bei fraktalen Bildern allerdings tritt der Effekt nicht auf. Je mehr man die Fraktale aber verrauscht, desto stärker kommt er zurück. Frage: Was ist da los?
Und dann gibt es noch die zwei, die kenne ich schon, hallo! mensch! — die kriegen jetzt den Gürtel. Der Gürtel heißt eigentlich Feelspace und funktioniert so: Man trägt einen Kompass-Gürtel, der die aktuelle Ausrichtung im Raum per Vibration an die Haut überträgt. Nach einigen Wochen fängt das Gehirn an, die Information, quasi als neue sensorische Modalität (nämlich absolute Raumorientierung) auszuwerten. Ohne daß die Gürtelträger genau sagen könnten, wie sie es machen, schneiden sie bei Navigationstasks besser ab als wir Nicht-Cyborgs. Diverse Leute am Lehrstuhl, der Chef eingeschlossen, haben den Gürtel getragen, können sich aber, so hieß es damals, nur untereinander einigermaßen darüber unterhalten, wie es ist.
Osnabrück, das Zentrum im Osnabrücker Land, wie das Schild am Bahnhof bis vor kurzem noch trocken feststellte, ist meiner Heimatstadt nicht unähnlich, nur etwas größer und norddeutscher. Gymnasiasten helfen aus innerem Bedürfnis den Fremden bei der Busauswahl. Die älteren Herren stecken alle in aktuellen Audis und gutgepflegten Wachsjacken, die jüngeren Frauen tragen allesamt Jeans, hübsche Sneakers und Frisuren, die nicht nur ihren Eltern gefallen.
Allerdings gibt es auch eine bemerkenswerte Konzentration von Livekabinen, Liebesshops und unauffälligen Clubs mit dubiosen Namen. Gleich wollen mir die leicht überakkurat gekleideten Silberschöpfe, die zwischen Neumarkt und Bahnhof zu Fuß unterwegs sind, etwas unheimlich erscheinen.
[Osnabrück Westerberg]
Die Kamtschatkakrabbe kann, wenn man sie zu einem Spagat nötigt, von Bein zu Bein bis zu zwei Meter messen und rund zwölf Kilogramm schwer werden. Norwegische Fischer zogen 1977 das erste Exemplar aus skandinavischen Gewässern und glaubten, eine Mutation sehe sie über hektisch bewegte Beiß- und Greifwerkzeuge hinweg an.
Ursprünglich wurde die Kamtschatkakrabbe in den sechziger Jahren von sowjetischen Forschern in der Barentssee angesiedelt, um die Nahrungsmittelversorgung der russischen Flotte im Baltikum zu sichern. Mittlerweile hat sie sich in alle ihr möglichen Richtungen ausgebreitet und ist bis zur Nordspitze der norwegischen Lofoten vorgedrungen. Die geschätzte Population vor der dortigen Küste beläuft sich auf zurzeit 2,6 Millionen Exemplare.
Für die lokale Fischereiindustrie, die unter extremem, in Überfischung begründetem Fischmangel leidet, ist die Kamtschatkakrabbe ein Geschenk. Im Geschmack zwischen Hummer und Garnele liegend, liegt der Erlös pro Kilogramm bei bis zu 63 Euro. 70 bis 80 Prozent des für den restlichen Exportanteil bereits industriell abgekochten und daher rot gefärbten Fangs gehen nach Japan – dorthin allerdings roh. Der Japaner kocht lieber selbst.
Als kleine verwachsene Schwester der marktwirtschaftlichen Begeisterung zeigt sich die Frage nach den ökologischen Folgen der Krustentierwanderungen. Momentan ist nur bekannt, was die Kamtschatkakrabbe auf Muschelbänken anrichtet. Sie frisst sie leer. Und verspeist so die Lebensgrundlage von Seestern, Seegurke oder Wellhornschnecke. Oder isst sie direkt mit. Die Kamtschatkakrabbe nimmt so ziemlich alles zu sich, was am Meeresboden lebt. In ihrem Magen findet man Überreste von Muscheln, Würmern, Algen, Schnecken und mittelgroßen Fischen.
Das macht sie zu einem harten Nahrungskonkurrenten für viele immer seltener werdende Edelfische. Im Vergleich zu diesen kann sie mit relativ geringem Aufwand gefangen werden. Wenn die Bedingungen gut sind, schöpft ein norwegischer Fischerbootbesitzer seine Fangquoten in nur zwei Tagen aus. Man kann die Kamtschatkakrabbe in wenigen Metern Tiefe finden oder in 300 Metern. Auf dem Echolot sieht man sie nicht, weil sie auf dem Meeresboden hocken. Manche sagen, sie sind wie ein Teppich – über den ganzen Boden ausgebreitet.
Ein kategorisches Ausrotten der Kamtschatkakrabbe, wie es Umweltschützer fordern, ist für die Regierung in Oslo keine Option. Zudem ist es fraglich, ob ein solches Vorhaben überhaupt gelingen kann. Es werden nur zehn Prozent einer Population gefangen, die kleinen Kamtschatkakrabben und ihre Larven fallen durch die Netze.
Die gemeinsame Fischereikommission von Norwegen und Russland hat die Fangquote 2006 zum wiederholten Mal verdoppelt. Eine norwegische Firma will die Tiere zukünftig in russischen Fjorden züchten.
Die Kamtschatkakrabbe hat keine natürlichen Feinde.