Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Im Kern der Verzweiflung des linken Projekts brütet die Frage, warum es dem Kapitalismus gelingt, die Begierdenstruktur des menschlichen Substrats permanent neu zu codieren und sich damit hoch-adaptiv fortzuschreiben, während das kollektive humanistische Subjekt nicht einmal einen Ansatz von Lust auf eine kommunistische Lebensform mehr zustande bringt: Wie kommt es, daß der Kapitalismus so viel besser in Reklame ist? Gibt es nicht ein angeborenes tiefes Bedürfnis nach Gemeinschaft, das immer zuerst da sein sollte, und das erst deprogrammiert werden müsste vom Kapitalismus? Woher kommt nur diese alles Maß sprengende Überlegenheit gerade kapitalistischer PR?

Diese Verzweiflung kluger aufrechter Verfechter emanzipatorisch humanistischer Politik ist verständlich, insofern sie die direkte Folge einer mühsamen, nostalgisch motivierten Verdrängung ist: Das Bedürfnis nach Gemeinschaft ist real, aber Gemeinschaft ist möglich wie Freundschaft und Liebe, ein unplanbarer und flüchtiger Moment des Glücks, sichtbar oft erst im Blick zurück. Die permanente Recodierung der Begierden hingegen, und mithin der dem jakobinischen Pathos entkleidete Fortschritt selbst, ist der Kapitalismus, falls er überhaupt etwas ist: Menschliche Komplizität mit der inhuman abstrakten Entität Kapital, die

kein Gleichgewicht kennt,
sondern blind ein wüstes
Experiment macht ums andere
und wie ein unsinniger Bastler schon
ausschlachtet, was ihr grad erst gelang.
Ausprobieren, wie weit sie noch gehen kann
ist ihr einziges Ziel, ein Sprossen,
Sichforttreiben und Fortpflanzen,
auch in und durch uns und durch
die unseren Köpfen entsprungenen
Maschinen in einem einzigen Wust
,

wie es über die Natur bei Sebald heißt.

Mark Fisher hat seine Trotz- und Verdrängungsarbeit Capitalist Realism genannt: Die Behauptung, wir würden uns irren, wir, die aktiven Agenten des Kapitals, die ahnungslosen Corporate-Drohnen, und die Landianer: indem wir die grausame Horrornatur des Universums als gegeben hinnähmen und die Herbeibeschwörbarkeit einer Alternative, die über die fragile Ruhe einer demilitarisierten bürgerlichen Zone hinausginge, leugneten.

Fisher hat immer zwei intellektuelle Gewichtsklassen über seinen Facebook-Groupies gekämpft, denen jede begriffliche Munition zu einer gekränkten Rechthaberei, als die sich der Online-Humanismus in den letzten Jahren weitestgehend dargestellt hat, recht ist. Fishers eigene Verdrängungsarbeit war umso titanischer, als kaum einer die translebendtoten gotischen Funktionen, die auf dem menschlichen Substrat agieren, so gut verstanden hat wie er. Lest seine Promotion Flatline Constructs.

Matt „xenogothic“ Colquhoun hat mit egress: on mourning, melancholy and Mark Fisher ein weiteres tragisches, heroisches Trotzdem produziert, das atemlos Kapitalismus sagt und Neoliberalismus ausspuckt als kenne es ein Anderes zum so beschimpften Zustand der Welt, ohne mehr zu erreichen als Fisher selbst: Gerade genug Distanz, um sehen zu können, wie praktisch undenkbar eine Alternative ist; tatsächlich ein melancholisches Projekt.

Gemeinschaft zerstört sich, wie Liebe und Freundschaft, wenn sie Herrschaftsform wird, und zu Herrschaft driftet alles, was durch Praxis verstetigt werden soll und ein Außen hat. Die stärksten Stellen des unapologetisch persönlichen Buchs eines Schülers, der mit dem Tod eines Lehrers fertigwerden muß, bevor er fertig war mit ihm, kreisen um die Erfahrung von Gemeinschaft unter Freunden und Studenten nach Fishers Tod, die wie eine Ausgangsperspektive erschien: Beisammen in Trauer, nie wieder allein sein.

Die Konstellation, die er beschreibt, hat eine vertraute Struktur: Eine charismatische Hochenergie-Figur — goth, Robert-Smith-Frisur, einer, der ein Gespräch über Maschinen unterbricht für ein paar Stunden Schlaf auf einem Fußboden und dann aufwacht und weiterdenkt und weiterspricht: sagt mir, daß ihr nicht ein Freund sein wollt von so einem — das Transzendenzversprechen in seinem Denken, seine heroische Entschlossenheit, Räume offenzuhalten in einer feindlichen Totalität, und sein traumatischer Tod; Trost in der Gemeinschaft der Freunde und in musikalisch-mystischer Praxis: Ein österliches Ereignis. Colquhoun spricht in Zungen in Egress, es spricht ein heiliger Geist in diesem Buch: die Fisher-Funktion.

Sie spricht weiter aus einer zum Scheitern verdammten Ontologie, in der der Kapitalismus ein Ding ist und das Kapital nicht, und die darum nicht versteht, warum es keine Praxis gibt, die aufflackernde Intensitäten, Gemeinschaft und Freundschaft, verstetigen könnte. Der gemeinsame Feind derer, die diese Ontologie immer noch sinnlos in links und rechts einteilt, bleibt der Faschismus. Die Feindschaft zum Faschismus ist Punk, und Punk macht das seit jeher souveräner als es die Linke mit ihrer immer am faschistischen Abgrund operierenden Sehnsucht nach einer anderen Stasis je könnte.

Dagegen, via Egress: Julia Bell, Really Techno:

Judith, now Jack Halberstam and others have argued that it is not our sex acts which constitute queerness, but rather what we do with our time. S/he suggests that we ‘try to think about queerness as an outcome of strange temporalities, imaginative life schedules, and eccentric economic practices,’ so that we can ‘detach queerness from sexual identity and come closer to understanding Foucault’s comment in Friendship as a Way of Life that “homosexuality threatens people as a ‘way of life’ rather than as a way of having sex.”’

Link | 11. April 2020, 21 Uhr 57 | Kommentare (2)


eine alte person ist eine junge person, die auch nicht weiß, was ihr zugestoßen ist und wann das gewesen sein soll, sagst du.

natürlich kann ich mir genauso leicht vorstellen, siebzig zu sein, wie ich mir vorstellen kann, vierzig zu sein: beides ist absurd. ich tanze in der küche, ich spiele videospiele, ich höre musik. es ist wahr, ich mache keine tiktoks. die seuche ist beiläufig auch an mir interessiert.

wenn man zweiundzwanzig ist und talentiert und die welt weht durch die seele wie ein maischauer durch ein flußtal, sagst du, wenn man das eigene charisma nicht versteht und die eigene unschuld nicht, hat man dann eine chance? ich wüsste gern: gibt es welche, denen es gelingt? die nicht diese vernichtenden fehler machen in diesen jahren? wie sind die? wo sind die? die unerloschenen unverletzten niemals-grausamen? gibt es sie? was trinken sie? wie wohnen sie? was lesen sie? was schreiben sie? erben ihre kinder ihr glück? gibt es: ein geheimnis?

und ist das, was wir danach tun, frage ich, der kompromiss oder die sache selbst?

die glasscheibe mit deiner reflektion in den dunklen pfanzen des atriums, der beistelltisch, deine schuhe: wie könnte das der kompromiss sein? deine selbstauskunft zweifelt; ich, von außen, weiß es besser.

Link | 6. April 2020, 0 Uhr 58