„Betrand Russel […] schreibt, daß das Problem unserer Zeit darin liegt, daß wir uns intellektuell zu schnell entwickelt haben und moralisch zu langsam und, als wir die Kernphysik entdeckten, nicht zur rechten Zeit die die nötigen moralischen Prinzipien verwirklichten. Mit anderen Worten: Nach Russell sind wir zu gescheit, aber moralisch sind wir zu schlecht. Russells Antwort wird von vielen geteilt, auch von vielen Zynikern. Ich glaube das genaue Gegenteil. Ich glaube, daß wir zu gut sind und zu dumm. Wir werden zu leicht von Theorien beeindruckt, die direkt oder indirekt an unsere Moral appellieren, und wir stehen diesen Theorien nicht hinreichend kritisch gegenüber; wir sind ihnen intellektuell nicht gewachsen und werden ihre gutwilligen und opferbereiten Opfer.“
(Popper, Gegen den Zynismus, in: Alles Leben ist Problemlösen.)
Ich füge hinzu: Und natürlich geht die Behauptung der eigenen Moralität viel leichter von der Hand als die der eigenen Intelligenz. Wer sich über die Dummheit anderer überhebt, auch unter der Angabe von Gründen, begeht eine Überschreitung und muß sein Verhalten rechtfertigen, wer sich über Unmoral ärgert, weiß sich auf der sicheren Seite des jederzeit Erlaubten.
Daß der Optimismus Poppers von der Wirklichkeit dann aber dahingehend konterkariert wird, daß die Leute zwar moralisch gut sind (ich kenne fast nur gute Menschen), im moralischen Ernstfall aber das Schlechte trotzdem tun, ist eben doppelt traurig: Sie tun das Schlechte, weil es naheliegender, dringlicher oder angenehmer ist, aus einer tief menschlichen Regung heraus also, sie tun es aber, wenigstens irgendwie doch, nur tun sie es als moralische Menschen schlechten Gewissens.
Daß die Bösartigkeit, die den Menschen gern allgemein unterstellt wird, nur eine ideologische Behauptung ist, das zumindest kann man getrost zugeben: Gut sein wollen fast alle, die meisten wissen auch, wie es ginge und scheitern nur an der Schwäche des Willens, die uns ja mit stiller und ruhiger Hand kompromisslos und meist einsam regiert.
[Uncool]