Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Berlin ist unheimlich. Die Asche überall, die Toten, die Garben im Sandstein, die Seelen derer, die an diesem Ofen in meinem Arbeitszimmer saßen, den es schon viele Dekaden lang nicht mehr gibt; wer hat meine Küchenmöbel gebaut aus OSB und Terrakottafliesen, die ich schon ein Jahrzehnt lang mich weigere gegen etwas von IKEA zu tauschen? Die Regentropfen, die vom genieteten, vielfach lackierten Stahl der Hochbahn in unsere Nacken fallen, kalt, die Ströme von Rinderblut in den Rinnen, wo sie heute Fahrräder verkaufen; die Kugeln und Aggregate, Lichtbögen und Lederhandschuhe, die Hundertschaften vor den Werktoren, Feuer in den Dachstühlen und die in Zeitlupe fallenden Scherben der Oberlichter, die Welt aus Zucker und Dreck, Tempo vor der Zeit.

Ich hatte die Angst verloren vor diesem Ort, vor diesem unter dem Gewicht der Toten in den weichen Sand sinkenden faulen Koloß, diesem Schatten seiner selbst, diesem Glutrest der Moderne, ich hatte die Angst verloren, die mich begleitet hat in die Wohnungen meiner Kommilitonen, mit der Frage: Warum sehen sie es nicht? Warum sehen sie nicht den Engel der Geschichte, oder hören den Wind in ihren Schwingen, oder fühlen die Asche prasseln auf ihren Wangen?

Aber Monate des Friedens an einem weniger dichten Ort, einem Ort mit ein, zwei wunderlichen Geistern, von denen man Dias fand, haben die Angst zurückgebracht bei der Rückkehr nach Berlin, die Fassungslosigkeit angesichts der Ungeheuerlichkeit einer Gegenwart auf dieser Ruine, den Ekel vor der Überhebung der Lebenden, Six Bells Chime.

Link | 23. April 2021, 0 Uhr 34