Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Es ist die Gothic Pogo Party, wo das WGT mehr das WGT ist als sonstwo in der Leipziger Frühsommernacht, nicht unbedingt besser, aber in der Tendenz aufregender. Ich habe ein schlechtes Jahr, in schlechten Jahren tanze ich nicht; ich habe in meiner Seele irgendwo die Firma dabei und es gelingt nicht zu vergessen, daß ich ein Geschäftsführer bin, von dem alle viel erwarten weil er allen viel versprochen hat, und das ist unmöglich alles zu halten. Nicht ausdrücklich habe ich diese Versprechen abgegeben, sondern beiläufig und performativ: kein Schisser zu sein genügt, es bringt die Leute aus dem Konzept, und dann denken sie, der weiß was, man muß ihm zuhörn, und wenn man dann kein Arsch ist, versucht man sie nicht zu enttäuschen: So in etwa funktioniert das. Leider ist man dann auf der Gothic Pogo Party und hat Sorgen und tanzt nicht, auch nach dem dritten Gin Tonic nicht, auch wenn You You sich ankündigt und wirklich alle wach werden und eilig ihre Gläser mit den Eisresten irgendwo zwischen die Stehtischbeine stellen oder neben ein Molltonknäuel und einen euphorischen Moment haben: Etwas unterbricht die schon mitgemachte Bewegung und sagt, als wäre das ein Grund, ach nein, Du hast ein schlechtes Jahr, laß es, und hält dich fest an dem hassenswerten wackligen schwarzgehussten Mittwipp-Stehtisch.

In einem guten Jahr geht es anders zu natürlich, und ich bin eben doch bloß der Nette Junge Mann von meiner 2004 verfassten Vigilien-About-Page, und dann ist es vier Uhr nachts und seit drei Stunden driftet die Musik qualitäts- und obskuritätswärts und wenn man sich morgen nur an ein Zehntel davon erinnern könnte hätte man eine Dekade neuer alter Musik zur Verfügung, aber es wird alles weg sein und Nerderei ist auch keine Option jetzt gerade. Natürlich gibt es eine Frau, die ich nicht kenne und mit der ich nie ein Wort wechseln werde, die aber da ist seit ein paar Stunden, die weich aus dem Nebel auftaucht und wieder in ihn verschwindet, aber doch in der Nähe bleibt, weil es hier gerade gut ist, und ich bleibe auch in der Nähe, weil es hier gerade gut ist; ein kleiner Eros-und-Glücks-Pakt für eine Weile, bis eins von uns unerwartet nicht mehr da sein wird, wer immer zuerst bemerkt, daß es vorbei ist, die Dichte der Nacht zerfallen, und es Zeit ist, hinauszugehen und müd und kalt eine halbe heisere Stunde von einer Straßenbahn hin- und hergeschaukelt zu werden wie eine an die Stange gehängte Schweinehälfte im ersten Licht.

Es wirken zur Zeit nun mehrere antidionysische Vektoren: Die Pandemie, das Alter, die Firma und ein unpraktisches Haus, das ich mir zum Lesen und Schreiben einrichte, ohne zu wissen, ob sich das noch lohnt oder ob ich doch in Anbetracht der die Literatur komplett auffressenden freudlosen Mittelstandsstreberei um das umfassendste Mitgefühl fürs exotischste Opfer kapitulieren soll und die unvermeidlich am Horizont meines Erwachsenenalters aufziehende Phase des Studiums der Gartenbaugeschichte gleich schon umarmen.

Addiert man diese Vektoren, kommt ein Leben heraus, in dem viel und mit sich einschleichender Großspurigkeitsroutine geführt wird, ansonsten viel gegipst, verschäumt und geschreinert — aber keine Frau, mit der ich noch nicht geschlafen habe, legt mir auf einem tiefen Kneipensofa im Wedding ihre Beine in den Schoß, um zu erfahren, was ich machen werde, und niemals lehne ich mich, gegen den Schwindel, von innen gegen eine klirrende Stalltür im Klo, und niemals sitze ich, seit Tagen schweigend und in einer Recherche verlorengegangen, in der Staatsbibliothek und bestimme selbst über diesen schwingentragenden Ausnahmezustand der Zeit. Zu beklagen ist das nicht, Seuchen und ihre frustrierend apollinischen Notwendigkeiten gehören zum Menschsein, das Belastetwerden von der Welt im fünften Lebensjahrzehnt, das Häuserbauen ebenso, und Wehmut ist immer eine Geschmacklosigkeit. Wichtig aber scheint mir, sich nicht aus Versehen dauerhaft einzurichten in dieser käsigen Vernünftigkeit, am anderen Ende des Verantwortungstunnels Irrsinnsreserven noch bereit zu haben und sich nicht zu verwechseln mit der Rolle-dessen-der-alles-richtig-macht, die man zu Seuchenzeiten eben spielen muß, wenn man zu denen gehört, die sie in ihrem Repertoire eben vorfinden.

Link | 9. Dezember 2021, 3 Uhr 49 | Kommentare (2)


2 Comments


!!

(mehr gibt’s dazu eh nicht zu sagen, und selbst diese klammeranmerkung ist ja auch schon unnötig, aber, nun ja. you know.)

danke.

Kommentar by frank | 12:43




mir hilft es, wenn sich die dinge zu pflichtbewusst u bequem anfühlen, den weinseligen kopf aus dem fester zu strecken und einfach nach dionysos zu rufen. dir vielleicht auch. er antwortet (mir) zwar nie, aber manchmal merke ich im gesicht, dass sich die luft irgendwie anders regt, und das gefühl hält sich fürs nächste mal, wenn dionysos umher ist, und hilft, sich unbeirrter an seine fersen zu heften.

Kommentar by susanna | 14:47