Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Verdienen Sie eine zweite Chance? fragte mich der sehr betrunkene russische Junge. Verdiene ich nicht eine zweite Chance? fragte er mich auch noch.

Wir haben ja leider, hatte er vom anderen Ende des Bahnsteigs gerufen, ein, und dann sehr gedehnt: ein Bildungssystem!

Und dann, auf halben Weg zu mir und den Mädchen, mit einem bemühten, gezielt irren, vermutlich einstudierten oder abgelauschten, immer wiederholten irren Lachen: Warum denn nicht… Krieg? Das immerhin könnt Ihr Deutschen gut!

Und einige Sätze auf französisch, die ich nicht verstand.

Wie macht Ihr Russen das nur, dachte ich mir, so vorbildlich verzweifelte Charaktere vorzustellen, kaum daß Ihr Siebzehn seid? Ich stand zwischen dem jungen Russen und den Mädchen – Jeans, Yogamatte, Barbourjacke – und er hatte sie schon zweimal, wogend, betrunken, harmlos aber lästig auf eine Reaktion aus, umkreist zuvor. Jetzt hatte ich ihn, ich war auch interessant.

Verdienen Sie eine zweite Chance? wollte er von mir, höflich mich Siezend, wissen.

Die Antwort war kompliziert. Sie durch eine FFP2-Maske zu formulieren, an einen Betrunkenen, der einige Grenzen zu verletzen bereit war, um irgendwie getröstet zu werden, eine fast unlösbare Aufgabe. Ich antwortete nicht, ich schaute ihm in die Augen. Lange, unverwandt, schweigend. Verdiene ich nicht eine zweite Chance? Ich schwieg, und schaute ihm in die Augen, und dann, nach einer Weile, die ihm die Verunsicherung, die er erzeugen wollte, zurückgegeben hatte für einen Moment, endlich, tat ich, was ein betrunkener Lästiger von einem Fremden zu erwarten hatte nachts an der gestörten U5 am Alexanderplatz: Seine Übergriffigkeit wieder ignorieren.

Ver-sinken Sie im Boden! deklamierte er, mit schöner russischer Intonation und großer Geste mit offener Hand. Die Mädchen lachten. (Der Zug kam dann, und er machte woanders weiter.)

Ich hätte, wahrheitsgemäß, „nein“ sagen wollen, aber ein solches Nein wäre zu leicht zu verwechseln gewesen mit einem deutschen Nein: Nein, die Regeln sind die Regeln, und Gerechtigkeit ist nur, wenn’s allen deswegen schlecht geht. Mein Nein, das zu formulieren an der U5 unmöglich war, war ein Nein, das ihm viel näher gewesen wäre: Nein, wir verdienen keine zweite Chance, weil wir die erste nicht aus Pech und Schussligkeit vermasselt haben, sondern aus Hochmut. Du auch, mein junger russischer Freund, Dein Französisch ist zu gut und Dein irres Lachen zu gut einstudiert. Wir beide verdienen keine zweite Chance. Du kriegst sie trotzdem, und eine dritte, und eine vierte. Bemerken wirst Du sie nicht. Tut mir leid.

Link | 13. Januar 2022, 2 Uhr 45