Vigilien

is there any any? nowhere known some?

Das fünfte Stockwerk des Stadtpalais war schon seit zwei Jahrzehnten nicht benutzt worden, als die Familie, in finanzielle Bedrängnis geraten, beschloss, es zu vermieten. Meine sorgfältig auf erschwingliche Odditäten kalibrierten immobilienscout24-Suchen schlugen an, und also mietete ich die Hälfte der Etage zu Anfang Mai, möbliert, wie gesehen.

Zu den Möbeln gehörte neben einem staubigen Filztisch und einem Schrank voller Fasanenfedern eine Industrieküche, die in den sechziger Jahren eingebaut worden war für eine Dienerschar, die zu unterhalten sich die Familie auch lange vor der aktuellen Eisenbahninvestmentkalamität schon nicht mehr leisten wollte. Ein Eisfink-Kühlschrank brummte nach dem Einstecken zuverlässig los, und unter der Staubschicht lag ein unverwüstlicher Edelstahlglanz. Zu den Mietern der zweiten Hälfte der Etage gab es keine einzelne Tür, lediglich eine Zwischenzone aus Zimmern, die keine der beiden Parteien benutzte. Drüben wohnte ein sympathisches Dreieck aus SM-Studienstiftlern, und wir kamen uns praktisch nie in die Quere.

Ein Speisesaal voller auf die Tische gestapelter Holzstühle kam mir nachts wie ein Wald aus Antennen zum Empfang von Signalen aus der Vergangenheit vor, und wenn das elektrische Licht vom Ende des viele Zimmer tiefen Gangs zur Küche zu mir heraufschien, verharrte ich oft für Minuten reglos und wie von einem abscheulichen Bann betroffen, um in das Haus hineinzulauschen.

Tiefer als der Rest der Etage (und eher auf meiner Seite) lag ein Zimmer mit Kamin, und oft stieg ich, als es Herbst wurde, eine der beiden kleinen Treppen hinunter und machte ein Feuer. Von den sechs als Schlafräumen nutzbaren Salons, die mir zur Verfügung standen, legte ich mich nach anfänglicher ruheloser Rotation auf eine Kammer direkt neben dem Kaminzimmer fest. So richtete ich mich ziemlich tief im Innern des Gebäudes ein in einem fast drei Meter breiten knarrenden Bett, und es entstanden Trampelpfade in die metallene Küche und in die Treppenhäuser des Palais für meine Einkäufe und Stadtgänge. Einmal, im Halblicht eines Oktoberabends, stolperte ich in einem der Gänge über eine Katze, der ich niemals wieder begegnen sollte.

Etwa um diese Zeit entdeckte ich auch, in einer Durchgangs- und Vorratskammer hinter der Küche, die Treppe in den Westflügel. Ich fand ihn kurz zuvor verlassen: Im großen Saal, der fast das gesamte Volumen des Flügels füllte, standen kreuz und quer Tische auf dem Parkett, darauf Monitore und Notebookcomputer und Eisteepackungen. Kabel lagen zwischen den Tischen, und aus den geöffneten Doppeltüren in den Park wehte der Geruch frisch geschnittenen Grases herein. In den großzügigen Waschräumen im Durchgang zum Palais zischte Wasser aus allen Hähnen. Ich wagte nicht, auch nur einen zu schließen, und kehrte, auf eine unklare Art alarmiert, über die Dienstbotentreppe nach oben zurück und von dort durch die Fluchten in mein abgesenktes dunkles Zwischengeschoß.

Link | 29. August 2019, 9 Uhr 50


Ich erhebe die Forderung nach einer Architektur und Inneineinrichtung aus nicht mehr als 10 Materialien und nicht mehr als 5 Formen.

Das ekelhafte Vintage-Pastiche der Hotels und Kaffeeröstereien, mit ihren Industrielampen, gelöteten Messingwaben, Ohrensesseln und verschlissenen Orientteppichen muß der Welt mit großer neuer Strenge ausgetrieben werden. Ein starker Brechreiz sollte die Menschen beim Betreten dieser Häuser befallen und tut es heute nicht: Dies gilt es zu korrigieren.

Die Architektur der Neuen Strenge erlaubt Beton, lackierten Stahl, Holz, Glas, Teppich, Keramik, Stoffe, 3 frei wählbare Flächenmaterialien. Die Architektur der Neuen Strenge wird ohne interpolierte Flächen und ohne maschinell optimierte Strukturelemente gezeichnet. Die Architektur der Neuen Strenge sucht das Sakrale in jedem Raum: Die Souveränität, die Hingabe an die Schwäche im Angesichts des Übermächtigen und Unfassbaren. Ihre Unheimlichkeit ist Freiheit.

Lebensräume sind Räume des Denkens. Sie müssen die Qualitäten Klang und Licht und Atemluft priorisieren und optisch beiseitetreten: In solchen Räumen ist eine freie Besinnung möglich. Die Kombination von Glühbirnen-Industrieambiente-Heimeligkeit und algorithmischer Organizität dagegen erzeugt einen von einer synthetischen fremden Natur überforderten, trypophoben Menschen, zur Beruhigung mit Zitaten einer handwerklichen Vergangenheit überschüttet: Am Rand der Panik, artisanal abgelenkt.

Link | 18. August 2019, 0 Uhr 15 | Kommentare (1)


Vom Parkplatz schon war das Wehr zu hören. Schilf und Weiden, und schnürig war der Regen, eine ganz und gar reglos vertikale Wassergegenwart. Drang man vor zwischen die Schilffelder, wurde das Wehr auch sichtbar, breit und flach floß der Strom über eine dunkle Kante. Beton und dürrer Stahl, ein menschloser und fleckiger Quader überragte Anlagen und Wasser mit schwarzen Blicken. Das Schloß hinter uns verbarg in seinen Türmen, hinter den blaßgelben Mauern, die Werke aus Draht Fetzen Nägeln und Wachs, und Licht, das mit präzisen Ovalen (nur unscharf in den fernen Kurven) auf den Fußböden und Nischen lag, Schatten machte von Draht Nägeln Fetzen und Wachs, klarer war als die draußen waltende Wehrwelt, mit gleißender Intensität dunkle von weißen Flächen schnitt. Und die Kante ward die einzige Wirklichkeit in der Szene drinnen und draußen, frei von ihren Flächen und dem Licht, allein, nur trügerisch umgeben von Schloß und Wasserei, und ihre Innenseiten waren außwendig als sie verschwanden in der frei sirrenden Kante im Raum. Die geheime scotistische Versenkungsreligion hatte diesen Ort geschaffen, unbemerkt, für Regentage, dekoriert für eine unverständige Welt als ein zufälliges Ensemble von Funktions- und Kultureinrichtungen in der Provinz, aber zweifellos bewusst und mit klarem Plan und Geschmack.

[Wie Efeu hänget astlos der Regen]

Link | 11. August 2019, 0 Uhr 23