Blaue Nachtbeleuchtung färbte einheitlich die blanken Handläufe, die Zapfhähne, Hocker und Absperrkordeln, die Fledermausbataillone der Gläser und die stillen Bildschirme. In den Granitböden spiegelten sich die fernen kleinen Dioden, und nur ein stummer Jägermeisterkühlschrank brachte Neongrün und Orange in die blaue Dunkelheit. Der Pfad wand sich von Tresen zu Tresen; dieser Trinkdschungel war offen genug, um sich zurechtzufinden, und dunkel genug, um anzustoßen an unerwarteten Barhockern, doppelt und chromig im Mond- und Schummerlicht.
In der Mitte des Barwalds wäre ein Netz über ein Areal mit künstlichem Waldfußboden, einige Bäume und eine Art hölzernes Dojo gespannt, das wusste ich, ein hausgroßer Käfig voller schlafender Vögel, und liefe man einen Hocker über den Haufen in der Nähe und schmetterte ihn nieder aufs gewachste Granit, würde der geweckte Käfig in einen tropischen Radau ausbrechen, der mich verraten müsste. Auf der anderen Seite der Käfiglichtung ginge es weiter mit Schnitzel- und Chili-Bars links und rechts der Wegmäander, glaubte ich vom Vortag zu erinnern. Und tatsächlich fand ich heraus aus dem blauen Labyrinth, ohne die Vögel zu wecken und meinen Gastgeber mit der Frage zu befassen, was ich nachts allein hier unten machte.
Drei Stockwerke hoch und mit einem auf Säulen ruhenden Pultdach war die Südhalle, wie ein Flughafen, oder ein Rennomier-Autohaus, und ihr weites Betonfeld mit Kegeln von Licht verlangte viel mehr Fassung bei der Überquerung als die intimere Irrlichtzone der Tresen, aus der ich kam. Nachts, allein, in hallenden Oxfords, die eigenen Schritte ertragen auf freier, von Dunkelheit und turmhohem Beton umstellter Fläche, ohne zu laufen zu beginnen oder auf Zehenspitzen zu schleichen: Maß, Maß.
Die Glastür war einen Spalt offen wie erwartet, auf einem um Innen- und Außenklinke gewickelten Tuch, und kühle klare Sommernachtluft griff durch den dünnen Spalt herein. Draußen war der Parklatz hell erleuchtet und leer: Asphaltraster, Flutlichttürme, Lindenduft und Temperatur unter dem Taupunkt so weit das Auge reichte. Ich wartete darauf, daß sich ein Motorengeräusch aus der Kulisse der fernen Schnellstraße herauslösen würde, aber für einige Minuten geschah nichts. Ich machte einen Schritt zurück in die Südhalle, die mir jetzt schwül und zu warm und unerträglich erschien, und dann sah ich den Wagen auf mich zu kommen quer über die Fläche, Park- und Bahnmarkierungen und Pfeile nicht achtend. Shelby Mustang in schwarz, mit den Streifen: Nicht unbedingt meine Wahl. Was man sich halt so kauft, wenn man ein paar dutzend Bitcoins findet auf einem acht Jahre alten HP mit gebrochenem Display.
Ich stieg zu und wir riskierten drei laute Umrundungen des ganzen hell in die Nacht strahlenden Komplexes über den Parkplatz, Fenster offen, eine Dose kalte Cola in der Hand.
Berlin ist unheimlich. Die Asche überall, die Toten, die Garben im Sandstein, die Seelen derer, die an diesem Ofen in meinem Arbeitszimmer saßen, den es schon viele Dekaden lang nicht mehr gibt; wer hat meine Küchenmöbel gebaut aus OSB und Terrakottafliesen, die ich schon ein Jahrzehnt lang mich weigere gegen etwas von IKEA zu tauschen? Die Regentropfen, die vom genieteten, vielfach lackierten Stahl der Hochbahn in unsere Nacken fallen, kalt, die Ströme von Rinderblut in den Rinnen, wo sie heute Fahrräder verkaufen; die Kugeln und Aggregate, Lichtbögen und Lederhandschuhe, die Hundertschaften vor den Werktoren, Feuer in den Dachstühlen und die in Zeitlupe fallenden Scherben der Oberlichter, die Welt aus Zucker und Dreck, Tempo vor der Zeit.
Ich hatte die Angst verloren vor diesem Ort, vor diesem unter dem Gewicht der Toten in den weichen Sand sinkenden faulen Koloß, diesem Schatten seiner selbst, diesem Glutrest der Moderne, ich hatte die Angst verloren, die mich begleitet hat in die Wohnungen meiner Kommilitonen, mit der Frage: Warum sehen sie es nicht? Warum sehen sie nicht den Engel der Geschichte, oder hören den Wind in ihren Schwingen, oder fühlen die Asche prasseln auf ihren Wangen?
Aber Monate des Friedens an einem weniger dichten Ort, einem Ort mit ein, zwei wunderlichen Geistern, von denen man Dias fand, haben die Angst zurückgebracht bei der Rückkehr nach Berlin, die Fassungslosigkeit angesichts der Ungeheuerlichkeit einer Gegenwart auf dieser Ruine, den Ekel vor der Überhebung der Lebenden, Six Bells Chime.
Nur ein paar hartgesotten Ergriffene klatschen noch, dünn und herausgefallen, von den Rängen. Das Gemurmel ist mit dem Licht gekommen, Rascheln der Programmhefte, die schon Souvenirs sind oder nur nicht liegengelassen werden aus Artigkeit. Kühle Luft kommt durch die Türen, Sauerstoff, die musikdichte, zerwühlte Atmosphäre löst sich auf von unten. Benommen gegen einen hochgeklappten Sitz wippend, wartend, lächelnd; ein silberhaariger Herr nimmt seine Frau am Ellbogen, unbestimmt, man weiß nicht, um einem Nachbarn den Vortritt aufzuzwingen oder aus eigener Ungeduld. Den Blick schweifen lassen, wo ist das blaue Kleid auf der anderen Seite? In welches Leben verschwindet sie? Und unzeremoniell räumt ein einsamer Perkussionist seine Sachen beiseite auf dem erledigten Parkett.
Also, sprechen wir ohne weitere eigene Krachtiaden und Montreux-Allusionen über Eurotrash. Voraussetzen sollten wir, um das Diskursfeld nicht erst selbst auskundschaften zu müssen, vielleicht diese kluge Rezension von Christian Metz.
Eurotrash handelt allerdings nicht von Schuld und Erinnerung, wie die anderen Bücher von Christian Kracht nicht von Schuld und Erinnerung handeln.
Die nationalsozialistischen Verbrechen sind nicht das Thema Krachtscher Literatur – dazu ist Kracht zu jung und er hat zu viel Geschmack; schreibt einer seiner Generation, oder gar meiner, dazu, ist es immer schlimmer Feuilleton-Streberpulp. Trotzdem sind bei Kracht alle irgendwie Nazis, geben Nazigeld aus; Reichtum kommt, so scheint es, immer aus dem Kosmos von Bernt Engelmanns Macht am Rhein: Alte, manchmal feudale oder koloniale Vermögen, die in Komplizenschaft durch die NS-Diktatur gerettet oder junge Vermögen, die in ihr auf nicht mehr aufzuklärende räuberische Weise erzeugt worden sind. Schreckliche herrschsüchtige Charaktere, Männerbünde mit all ihren Abgründen, zwei Geschosse hohe Büros in jungen Versicherungskonzernen, mit Messing-Doppelportalen und paranoider Fernsprech- und Überwachungstechnik in Bundespost-Erbsgrün und Gold: Die Welt, in der der Journalistenklub im Springer-Hochhaus entsteht. Kein erfundenes Milieu, aber eins, das weitgehend unsichtbar ist und auch nach dem Faserland-Ereignis, zumal es zunächst lange viel Verwirrung gestiftet hat, unsichtbar geblieben ist.
Eurotrash handelt, wie die anderen Krachtbücher und die Zeitschrift, von einer spezifisch europäischen Version des Reichtums. In Eurotrash zeigt Kracht eine seiner Karten und erwähnt Bataille direkt: Verschwendung ist, wenn man in Reichtum hineingeboren ist, die einzige Chance auf Souveränität — tragischerweise macht Verschwendung souverän, entschuldet aber nicht. Der schuldigen Herkuft von Reichtum ist nicht zu entkommen, und bataillesches Anagieren gegen ihn vertieft die Schuld eher als sie sie aufhebt. Krachtfiguren sind von vorn herein Verdammte aus genau diesem Grund.
Das alles ist wahr in einem Große-Literatur-Sinn: Der Durst nach Vernichtung in einem in batailleschen Begriffen korrekt beschriebenen Universum ist so universell wie der Ekel vor der Akkumulation und der prometheische Stolz der Verschwendung.
Ironischerweise hat uns das alles nicht interessiert. Bestenfalls sind wir von Kracht im Lauf der Jahre auf diese Spur gebracht worden — aber zu Bataille führen zu viele Spuren, um ihn zu verpassen. Ironischerweise war Faserland libidinös erfolgreich genau als ein Buch für uns Kleinbürger, die vom Reichtum träumen: wie Proust eine Mogelpackung, vordergründig mit Erinnerung und der menschlichen Erfahrung an sich befasst, in Wirklichkeit eine Chance für den Snob, sich was abzuschauen und sich hineinzubegehren in eine verschwenderische Elite.
Eurotrash liefert keinen fan service: Das ist gut. Im Gegenteil scheint das Buch einen redlichen Versuch zu machen, uns noch einmal auszubuchstabieren: Was ihr so attraktiv fandet an der Faserlandwelt war, vielleicht, Jugend? Das Milieu kann es doch nicht gewesen sein!
Aber natürlich war es das Milieu. Von der Schuld hatten sie uns viel beigebracht, an den Gymnasien der 90er. Vom Reichtum hatte uns niemand was verraten. Nichts. Dabei musste er irgendwo sein, fabelhaft reich wie Deutschland ist — uns war gesagt worden, die Fernseher und Videorekorder unserer Eltern seien dieser Reichtum (weil: Afrika!), ein Audi 100 sei der Reichtum. Faserland hat diese bundesrepublikanische Reichtums-Omertà zerstört, diese im Nachhinein schon enorm unplausible Geschichte von den Fernsehern und Videorekordern und afrikanischen Kindern entlarvt. Nein, er ist, durchaus, ein Milieu.
Der Nazischmutz ist dabei ein erstklassiger Klassenmarker: Mein Großvater war Essenholer und Kabelzieher in den Gräben der Ostfront, offenbar ein Flinker. Zu einem Totenkopfanstecker oder gar einem richtigen Kriegsverbrechen hätte es so einer nicht gebracht. Diejenigen von uns, die Großväter bei der SS hatten, lassen’s wissen heutzutage: Elite ist Elite. Wir andern sind heimlich ein bisschen neidisch.
Die Schweiz bleibt das Andere zu diesem Deutschland, in dem über Reichtum nicht gesprochen wird. In der Schweiz ist der deutsche Reichtum lange aufgehoben worden, in der Schweiz ist der eigene Reichtum kein Problem. Man schaut ja, als Schweizer, mit elterlicher Sorge über den Bodensee: Schafft Deutschland es irgendwann, sich dauerhaft nicht-charismatisch führen zu lassen, wie eine richtige Republik, und sich wohlzufühlen dabei? Unregiert, also frei unter der Herrschaft des Rechts? Und also das eigentliche Problem zu lösen?
Oder fallen sie doch wieder, die Deutschen, obwohl längst vorbildlich republikanisch verfasst, in die alte würdelose Sehnsucht nach heroischer kollektiv-moralischer Aktion? Und schaffen es die Deutschen, wieder Eliten zu erzeugen, die sich selbst ertragen? Die Bilder besitzen und Musik machen und mit alten jüdischen Damen in New York Tee trinken können und einfach angenehme Leute sein, wie das in der Schweiz und anderswo möglich ist, also ohne das bizarre verdruckste Theater, das sie viele Dekaden nach dem Krieg aufgeführt haben? Reicht die kulturelle Kraft, nachdem die jüdische Intelligenz nun einmal ermordet oder vertrieben ist, eine wirkliche Elite hervorzubringen, aus den Scherbenhäufen der SS- und der Essenholerfamilien und dem enormen Reichtum, der ja da wäre? Oder, so denken sich die Schweizer väterlich und sorgenvoll, ist es jetzt für immer zappelige Barbarei, da im Norden?
Eurotrash, das gar nicht in Europa stattfindet, sondern in der Schweiz, sagt auf seiner Kleine-Literatur/Faserland-2-Ebene: Vermutlich, leider, letzteres.