Von Zeit zu Zeit (es liegen oft Jahre dazwischen) besuche ich die letzte Ruhestätte meines alten Freundes Heiner Link. Er liegt jetzt seit ziemlich genau 11 Jahren auf dem Pasinger Friedhof in München, in einem alten Familiengrab, das ich jedes Mal, wenn ich dort bin, nicht auf Anhieb finde. Das ist so ein Running Gag zwischen mir und Heiner. Ich verspreche ihm hoch und heilig, dass ich es beim nächsten Besuch gleich wiederfinden werde. Und wenn es dann wieder soweit ist, laufe ich garantiert daran vorbei oder in die falsche Richtung. Ich verirre mich dann irgendwo, zwischen den Steinen, die hier manchmal in Zweierreihen dicht hintereinander gestaffelt stehen. Ich glaube, er würde sich darüber amüsieren, vielleicht tut er es ja auch, ich weiß es nicht. Ich glaube, das liegt an meiner Erinnerung an seine Beerdigung, damals an jenem Tag im Juni 2002. Die Sonne schien und es ging so ein zeitloser Wind und der Friedhof war voll von Menschen, von klugen Menschen, lieben Menschen und schönen Menschen, vor allem auch von schönen Frauen, was Heiner, der ein paar Tage zuvor in einem Rettungshubschrauber verblutet war, gut getan hätte. Denn sie waren ja alle hier, für ihn und es flossen viele Tränen. Auch meine. Die Tränen, so glaube ich, haben meine Erinnerung an die tatsächlichen örtlichen Gegebenheiten verzerrt, zu einem traurig-schönen, bewegenden Film, der sich durch keinen meiner nachfolgenden Besuche auf Dauer überschreiben lässt. Dabei ist dieser Friedhof natürlich auch nur so ein Ort und ich bin an Gräberorten dann stets am Zweifeln. Ich zweifle, ob man hier mit den Toten sprechen kann. Trotzdem versuche ich es.
Keiner weiß mehr, so lautet der Titel eines Buches von Rolf Dieter Brinkmann, einem von Heiners absoluten Lieblingsschriftstellern – und genau so ist es dann ja auch, da an seinem Grab. Ich weiß nicht, ob Heiner mir zuhört, ich weiß auch nicht, warum ich das alles tue. Für ihn, oder doch nur für mich. Oder für uns beide. Egal. Ich stehe jedenfalls allein vor dem Grab. Von all den klugen, den lieben und schönen Menschen fehlt jede Spur, höchstens eine freche Amsel hüpft herum. Ich rauche unsere obligatorische Zigarette und lege dem Heiner Link seine Kippe auf den kleinen Absatz zwischen Grabstein und Sockel. Dann erzähle ich ihm mit gedämpfter Stimme (was auch wieder einigermaßen blödsinnig ist, weil uns ja niemand beobachtet oder belauscht), was so alles in der Zwischenzeit passiert ist. Ich beginne dann immer mit den Frauengeschichten, weil ich denke, dass ihn das am meisten interessieren würde. Heiner hat nämlich stets behauptet, er sei der größte Romantiker von allen. Dann versuche ich zusammenzukratzen, was mit seiner alten Truppe so geht, mit Helmut, Girgl, Arno, Ingo und Co. Das wird von Besuch zu Besuch natürlich immer weniger, weil ich ja auch kaum noch Kontakt zu denen habe. Aber auch das ist egal, ich schweige dann einfach ein wenig länger oder ich pinkle an einen Grabstein in der Nähe, weil die Anfahrt immer so lang ist und es dort keine Friedhoftoilettenhäuschen gibt und dann lachen wir beide darüber, so wie früher, und ich sage zu ihm: Hey Heiner, jetzt reg dich doch nicht so auf, ich pisse doch NEBEN dein Grab, nicht darauf. Was alte Kumpels eben so reden. Nur, dass Heiner mich nicht mehr packt und drückt, so voll von Leben und Plänen wie er immer war.
Scheiße, mein Lieber. Das ist nicht fair. Es war mir eine Ehre. Und nicht nur mir. Und nächstes Mal finde ich dein blödes Grab sofort. Versprochen. Hoch und heilig versprochen.