der Korn im Grass

[RÜCKBLENDE]

Als ich das erste Mal vom Literarischen Colloquium in Berlin (LCB) hörte, war ich  betrunken. Ich stand am Wörthersee an der Bar des Restaurants Maria Loretto und wartete verzweifelt auf Clemens Meyer. Besser gesagt wartete ich auf mein Handy, das ich ihm, dem tätowierten Underdog-Autor aus dem Osten, in einem Anfall aus Mitleid und Wagemut geliehen hatte. Zuvor war er mir während der 30. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt noch positiv aufgefallen. Er hatte einen seiner typischen Meyer-Texte gelesen. Eine saubere Short Story a la Hemingway, einfach und roh gemacht, aber spannend erzählt. Ein Mann, eine Zelle, ein Knastmond. Das war so gar nicht wie die Welt des bei Autoren, Journalisten und Lektoren beliebten Seerestaurants, in dem ich ihn jetzt wieder traf. Meyer trat nicht wie gewohnt cool und großspurig auf, sondern kleinlaut und geknickt. Er klopfte an die Küchentür des Restaurants und ich hörte, wie er die Servicemannschaft um ein kostenloses Telefonat nach Hause bat. Er habe sein Handy verloren, kein Geld mehr in der Tasche und müsse unbedingt wissen, wie es seinem geliebten Hund gehe, von dem er sonst nie so lange getrennt sei. Sein Verlangen wurde von einem Kellner mit unbewegtem Gesicht abgeschmettert. Also lieh ich ihm meins, nicht ohne den Hinweis, er möge sich wegen der Kosten doch bitte kurz fassen. Meyer murmelte ein Dankeschön und verschwand in der Dunkelheit. Erst nach einer geschlagenen Dreiviertelstunde – in der ich vor mich hin trank und mich mehr als einmal verfluchte – kam er wieder zurück. Auf meine Frage, warum er denn so lange gebraucht habe, fixierte mich der ehemalige Boxer und bekennende Pferdewett-Liebhaber scharf durch die runden Gläser seiner Lennon-Brille: Ich sei ja auch schön blöd, einem Wildfremden einfach so mein Telefon zu leihen. Leicht hätte er für immer damit abhauen können. Und dann erklärte er mir mit lauter Stimme und weit ausholenden Armen,  dass ich das schon verstehen müsse. Er habe das nur wegen seinem Hund getan. Der arme Kerl fresse und saufe nämlich seit zwei Tagen nichts mehr und er hätte seiner Freundin detaillierte Anweisungen geben müssen. Seine Liebe zu diesem Tier sei so groß, dass er vor kurzem sogar ein Stipendium am berühmten LCB abgelehnt habe. Denn dort – und bei diesem Wort schnaufte er, als habe er mit der Vorhölle bürgerlicher Saturiertheit und Dekadenz verhandelt – sei man partout nicht bereit gewesen, sowohl ihn als auch seinen Vierbeiner zu beherbergen, obwohl der doch nun wirklich keiner Fliege etwas zu leide tun könne. Dann drückte er mir mein Handy in die Hand und murmelte etwas vom spießigen Betrieb und einem Bier, das ich beim nächsten Wiedersehen gut hätte. Zu Hause angekommen, flatterte eine Telefonrechnung ins Haus, nach deren Öffnen ich aber kein Bier, sondern einen Schnaps gebraucht hätte. Kein Zweifel: Ich hatte gerade eine harte Lektion aus der Leipziger Vorstadt erhalten.

[POST]

Im Jahr 2007 – Clemens Meyer war inzwischen zum etablierten enfant terrible des Literaturbetriebes aufgestiegen  – kam wieder Post. Dieses Mal aber nicht von T-Mobile, sondern vom LCB. Meine damalige Frau jubelte. Nun hatte sie jenen, bei aufstrebenden Autoren so begehrten Aufenthalt bekommen, den Meyer angeblich aus Liebe zum Hund abgelehnt hatte. Sofort fragte sie mich,  ob ich damit einverstanden sei. Drei Monate seien zwar eine lange Zeit, aber Berlin nicht weit weg und sie könne das Geld gut brauchen. Von der insgesamt eher restriktiven Ehepartner-Politik deutscher Literatur-Einrichtungen ziemlich genervt, polterte ich sofort los: Wenn Clemens dieses Stipendium wegen der drohenden Trennung von seinem Hund nicht angetreten habe, dann sei es ja wohl das Mindeste, dass sie das Stipendium ebenfalls ablehne, wenn ich nicht mitkommen dürfe. Schließlich sei ich als ihr Mann doch mehr wert als irgend so ein zahnloser Autorenköter.  Sie tat wie verlangt. Prompt wehte mich eine leichte Brise jener Offenheit und Lässigkeit des Hauses an, von der dessen geistiger Mentor, der Schriftsteller und Philologieprofessor Walter Höllerer bei den ersten Treffen der Gruppe 47 wohl geträumt hatte. Es sollte nicht die Letzte sein. Ohne Aufheben gestattete mir das nette LCB-Team, mich für einen kleinen Unkostenbeitrag in der mondänen Stadtvilla mit Blick auf den Wannsee einzuquartieren. Und als ich im Juli des darauffolgenden Jahres die knirschende Kiesauffahrt zum Sandwerder 5 hinauffuhr, den Wagen unter den alten Bäumen abstellte, den Motor ausmachte und durch den schattigen Garten hinauf zu dem in der Sonne strahlenden Prachtbau blickte und dahinter das Wasser des Wannsees blau schimmern sah, bekam ich eine erste Ahnung davon, was für ein wunderschöner Sommer uns erwartete. Er brachte mir viele neue Freunde, rauschende Partys und spannende Geschichten. An seinem Ende sollte ich nicht mehr nach Hause zurückkehren, sondern in Berlin bleiben.

[EINSPIELER]

Diese persönliche Geschichte passt zu einem Gebäude, das in seiner über 125jährigen Historie bereits viele Funktionen erfüllt und viele Biografien beeinflusst hat. Ursprünglich 1884 als protziges Domizil eines Berliner Bauunternehmers auf einem ehemaligen Grundstück des Prinzen Friedrich Karl von Preußen errichtet, vermietete dessen Enkel und Erbe, Hans Georg von Morgen, den  renaissanceartigen Bau auf der Haveldüne an den Bankier Dr. Ernst Goldschmidt, einen Vetter der Mutter Carl Zuckmayers. Von Morgen verkaufte an den jüdischen Prof. Rosin, der in den Dreißigern nach England emigrierte. 1938 bis 1953 trieb das Oberkommando der deutschen Kriegsmarine hier absurde Planungen für ein sogenanntes „Ein-Mann-Torpedo“ voran. Das gruselige Tarantino-Projekt scheiterte genauso wie der unselige Krieg und eine Zeit lang diente die Villa danach als mondänes Offiziers-Casino für alliierte Besatzer. Erst nach einem Rückerstattungsverfahren konnte Prof. Rosin 1953 seinen Besitz an Frau Wanda Höxter veräußern, die dort ein Hotel betrieb, das bald das Missfallen der reichen Nachbarn erregte. Da das Gebäude auch immer mehr verfiel, verkaufte die Wirtin das Grundstück 1960 an das Land Berlin. Der chronisch knappe Senat konnte für die vorgeschlagenen Einrichtungen aber keine Mittel aufbringen. So kam es 1962 zu dem Glücksfall, dass das LCB „gestiftet von der Henry Ford Foundation, getragen durch das Land Berlin“, das Haus beziehen und seiner heutigen Bestimmung zuführen konnte. Mit seiner anspruchsvollen Literaturarbeit half Höllerer damit der heimischen Autorenschaft, exemplarisch angeführt durch die berühmte Gruppe 47, Anschluss an die europäische Moderne zu finden. Mehr noch, er machte das LCB zu einem Markenzeichen für literarische Wertarbeit aus Deutschland. Schon bald nach der Gründung füllten sich die holzgetäfelten Säle, die großzügigen Zimmer und der Wintergarten mit Offenheit und Leben: Berühmte und unbekannte Schriftsteller und Filmemacher, Hörspielautoren und Medienwissenschaftler, Kritiker und Theaterleute kamen und kommen hier bis heute zusammen, um einander zuzuhören und zu arbeiten. Heute ist Berlins erstes und ältestes Literaturhaus mehr als bloß eine Institution. Es ist wie ein Schweizer Taschenmesser: ein modernes Multifunktions-Tool, das mit seinen Aufenthaltsstipendien für Autoren und Übersetzer, seinen Literaturwerkstätten, den Lesungen und Veranstaltungen eine stille, aber bedeutende Macht in der deutschen Literaturlandschaft bildet. Immer mit dem gelassenen Blick auf den zum Ufer hin abfallenden Park und den blauen Wannsee, auf dem Ausflugsdampfer, Ruderer und Segelboote scheinbar ewig kreuzen. Am Ende so manches rauschenden Sommerfestes geht die Sonne hier in einem glitzernden Schauspiel aus Licht und Schatten unter. Die Literatur aber bleibt.

[CUT]

An einem verregneten Samstag Ende Juli des Jahres 2011 treffe ich mich mit Torsten Dönges, dem Programmleiter und heimlichen Türsteher des LCBs, auf einen Kaffee. Mitten im pulsierenden Kreuzberg sitzt mir ein fröhlicher und eloquenter Mann gegenüber, der jünger aussieht als er ist. Seine Augen strahlen listig und er lacht und erzählt lustige Geschichten aus der Vergangenheit. Doch als ich nach seinen Auswahlkriterien für Texte und Autoren frage und mich nach den aktuellen Herausforderungen des Colloquiums erkundige, wird er ernst. Schnell wird klar: Hier ist jemand mit Leidenschaft am Werk, der den unorthodoxen Geist des Hauses auch noch ein halbes Jahrhundert nach der Gründung beschwören und mit seiner täglichen Arbeit lebendig halten möchte. Dönges, der seit über 10 Jahren am LCB angestellt ist, will ganz in Höllerers Sinne vor allem ‚Literatur als Kunst‘ fördern. Professionelle Entscheidungen trifft er mit Bauch und Verstand. Wer eines der begehrten Aufenthaltsstipendien oder einen Platz in der renommierten einmal jährlich stattfindenden Autorenwerkstatt ergattert, hängt vor allem davon ab, ob Dönges in den eingereichten Texten den absoluten Willen zur Kunst und das technische Potential für überraschende Erzähl-Blickwinkel und -perspektiven entdeckt. Diese Strategie scheint aufzugehen. Denn so wurde neben vielen anderen auch das „Fräuleinwunder“ Judith Hermann ausgebrütet. Freilich: nicht jeder, der für ein paar Tage, Wochen oder Monate am LCB lebt und arbeitet, wird berühmt. Aber auffällig viele, so Dönges, finden später einen Verlag oder tun den nächsten Schritt in ihrer Karriere. Fast alle bleiben dem Haus ein Leben lang mit großer Sympathie verbunden. Möglich machen das der gute Ruf und die ausgezeichneten Kontakte der erfahrenen Mitarbeiter. Erfolge, die neben der familiären Atmosphäre ein wichtiger Antrieb für seine Arbeit seien. Neben dem viel Lesen und organisatorischen Aufgaben besteht für Dönges die größte und nicht endende Herausforderung darin, das LCB trotz seiner Stadtrandlage und seinem großbürgerlichen Traditions-Image als lebendigen Ort für moderne Literatur auch für ein jüngeres Publikum attraktiv zu halten. Zu den etablierten Event-Konzepten in Zusammenarbeit mit jungen Verlagen, werde man deswegen in Zukunft auch verstärkt auf Satelliten-Veranstaltungen im Stadtzentrum von Berlin setzen.

[AND GO]

Am Ende unseres Gesprächs frage ich ihn dann doch noch nach Clemens Meyer. Ob die Geschichte mit dem Hund denn wirklich stimme? Ja, antwortet Dönges und lächelt verschmitzt. Auch ein „ganz lieber Kampfhund“ sei nun mal eine potentielle Gefahr für Besucher und Personal. Zur Versöhnung habe man Clemens bereits mehrmals zu Lesungen eingeladen, was dieser auch immer sehr gerne angenommen habe. Doch so ganz hätte er die Ablehnung von damals wohl doch nie verwunden. Denn bei einer seiner letzten Auftritte habe er schon bei der Anfahrt telefonisch nach einem Grappa verlangt. Da dieser in der hübschen aber  bescheiden ausgestatteten Bar des Hauses aber nicht vorrätig gewesen sei, habe man ihm als Alternative einen deutschen Schnaps angeboten. Dabei handelte es sich um eine besonders prominente Flasche Doppel-Korn, die der dem Hause besonders eng verbundenen Günther Grass stehen gelassen hatte. Meyer trank die Flasche aus, gab dann aber später in einem Interview auf die Frage, wie er es den mit dem Betrieb halte, zur Antwort, dass es eine echte Frechheit sei, dass man als junger Autor am LCB nur die Reste von Grass zu trinken bekäme. Den Stars serviere man nur das Beste vom Besten. Als einfacher Schriftsteller müsse man sehen, wo man bleibt.

So oder so, denke ich, während ich durch den warmen Sommerregen nach Hause laufe: auch diese Saat geht auf, irgendwann. Und auf das Bier, lieber Clemens, warte ich immer noch. Bis heute.

und gestern ritten die blogs darüber

Spät nachts, irgendwann im Jahre 2000irgendwas, hocke ich nach einer Lesung mit meinem ganz persönlichen Popliteraturgott auf dem schmutzigen Toilettenboden einer Hamburger Spelunke namens: Das Dorf. Draußen lärmen besoffene Spiegelredakteure, allerlei (Möchtegern-) Literaten und andere Groupies. Gott weiß, wer ich bin, denke ich, oder besser: was ich einmal sein wollte. Und: Etwas ist zu Ende und nichts fängt an. Einmal Internetliteraturgeschichte geschrieben und zurück.

Der Anfang ist lange her, im Sekundentakt des Netzes für immer verflogen. Nicht einmal die Webseite gab noch einen Hinweis darauf: Auf www.ampool.de bekam man zeitweise alles und nichts. So genannte „Netz-Nutz-Links“ führten zu Italien-Urlauben, Billig-CDs und Goldzähnen, zu Wellness-Wochenenden, Zooläden und Luxushotels. Kaum zu glauben, dass diese Adresse einmal die glamouröse Homebase der deutschen Popliteratur war. Heute ist sie wieder zu kaufen. Eine Internetplattform, gegründet 1999 von Sven Lager und Elke Naters, betrieben von einer elitären Gruppe von Popschreibern, die den herrschenden Schöngeistern des Literaturbetriebs einen wilden Traum entgegensetzten: Schreiben ohne Filter, Veröffentlichen in Echtzeit. Ohne Umwege und Lektoren – Literatur als Event, Literatur als Experiment. Mit dabei namhafte Autoren wie Helmut Krausser, Rainald Goetz, Tom Kummer, Stefan Beuse, Andreas Neumeister, Christian Kracht, Moritz von Uslar, Michael Lentz, Eckhart Nickel und Georg M. Oswald, um nur einige zu nennen.

„Na und?“, möchte man an dieser Stelle einwerfen. Ein Blog wie jeder andere, eine Meinungsbörse, wie es sie inzwischen zu Tausenden gibt: für Italien-Urlauber, Billig-CD-Käufer und Goldzahninteressenten, für Wellness-Junkies, Zoolädenbesitzer und Luxushotelgäste. Und eben auch für Autoren und solche, die es gerne wären. Der Zauber ist weg, die Luft ist raus, was damals aufregend war, macht seit gestern meine Oma.

Richtig. Trotzdem übersieht man dabei zwei entscheidende Dinge. Erstens, wie blutjung das deutsche Netz damals war und wie viele Wünsche und Ideen es aufzunehmen vermochte. Ein neues Medium, dem man nicht nur zutraute, die Kommunikation unter den Autoren zu revolutionieren, sondern von dem man auch dachte, es würde die literarischen Inhalte verändern. Zweitens, dass es bis heute keinen vergleichbaren Versuch in Deutschland gibt und gab, die Gunst der Pionierstunde zu nutzen und die Grenzen zwischen Schriftsteller und Publikum so dünn und durchlässig wie nie zuvor zu machen. Denn von Beginn an war das Projekt zweigeteilt: In einem Gästebuch namens www.imloop.de konnte jeder, egal ob Autor, Journalist, Kritiker, Leser oder Möchtegernliterat entweder offen, oder – was die Regel war – hinter Pseudonym versteckt, schimpfen, loben, dichten oder kommentieren. Mehr als einen „internetfähigen“ Computer, den bloßen Willen und eine Enter-Taste brauchte es dazu nicht. Die sonderbare Intimität, die sich zwischen den etablierten Autoren und den schreibenden Kunstfiguren entwickelte, das eigenartige Gefühl, einer virtuellen Gruppe am Puls der Zeit anzugehören, ist heute nicht mehr nachvollziehbar. Genauso wie die Tatsache, dass man auf diese Weise die wichtigsten Vertreter der deutschen Gegenwartsliteratur innerhalb kürzester Zeit persönlich kennen lernen konnte. Noch heute werde ich manchmal von Freunden und Bekannten mit meinem Pseudonym angesprochen. Ähnlich geht es Menschen, die in ihrem literarischen Second Life „Deadly Medicine“, „TomTom“, „zak“, „Faustus“, „LOTOS“, „Monik“, „HalfManHalfBiscuit“ und „The Crab“ heißen: ein schräger, manchmal amüsanter, manchmal auch beängstigender Effekt, wie ihn zum Beispiel auch Computerspieler auf einer LAN-Party erfahren. Aber der Literaturbetrieb ist nicht die Gamerszene, und ich bin sicher, wer heute versuchen sollte, über einen Blog an echte Schriftsteller heranzukommen oder sich einen Namen bei ihnen zu machen, muss scheitern.

Natürlich gibt es auch heute noch Foren, in denen Netzliteratur, Rezensionen und Notate gepostet werden. Zum Beispiel das gute alte www.forum-der13.de oder die spätestens seit Kathrin Passigs Sieg beim Klagenfurter Literaturwettbewerb respektierten und wohl auch bisweilen gefürchteten Webseiten www.hoeflichepaparazzi.de und www.riesenmaschine.de. Ich wage jedoch zu behaupten, dass sie zum Phänomen Internetliteratur nichts wirklich Neues beigetragen haben. Das liegt nicht etwa an ihren minder prominenten oder begabten Teilnehmern, sondern vielmehr an dem Umstand, den der Schriftsteller Rainald Goetz in seinem Internettagebuch von 1997 so treffend programmatisch mit dem Andy Warhol Zitat „Abfall für Alle“ betitelt hat und dem er im „Vanity Fair“-Blog dann ironischerweise selbst zum Opfer fiel. Dem Umstand nämlich, dass ein Literatur-Blog niemals seine endgültige und tödliche Form findet und damit auch keine nachhaltigen Inhalte erschafft. Wie im Meer schwimmen nicht etwa die schönsten und besten Beiträge ganz oben, sondern nur die aktuellsten. Der Resttext sinkt ab, wird zugedeckt und erstickt von unablässig nachfallenden Buchstabensedimenten, die paradoxerweise jederzeit, ganz oder in Teilen wieder nach oben gespült werden. Freilich nur, um aufs Neue in den ewigen, die Autoren und Leser gleichermaßen süchtig machenden, auf Dauer jedoch unbefriedigenden Kreislauf einzutreten. Wenn man so will, hat das Internet einen Anfang, aber kein Ende. Logischerweise wurden die Macher von www.ampool.de die Geister, die sie riefen, nur dadurch los, dass sie den Blog töteten, wie man Vampire killt. Sie trieben dem Projekt, mit dem sie einmal angetreten waren, den Betrieb mit seinen klassischen Regeln und Formen zu unterwandern oder zumindest zu umgehen, einen gedruckten Holzpfahl ins digitale Herz: „The Buch“. Denn nur das Druckwerk vermochte die virtuellen Ozeane für immer und ewig zwischen den Deckeln zum Stillstand und damit zur endgültigen Literaturwerdung zu zwingen.

Später beging ich einen weiteren Mord – als Herausgeber von „im LOOP“. Denn als das Popliteraturforum starb, vergaß man, das Gästebuch zu schließen. Glücklicherweise, denn aus ihm gingen in den folgenden Jahren mit Saša Stanišic (Luchterhand), René Hamann (Tisch 7) und Thomas Melle (Suhrkamp) mindestens drei sehr begabte und interessante Talente hervor. Aus hoffnungsvollen Kunstfiguren wurden echte Schriftsteller aus Fleisch und Blut. „im LOOP“ ist jedoch keine Verbeugung des neuen vor dem alten Medium. Denn diese kleine Sammlung von Texten aus dem deutschen Netz ist ganz bewusst mit dem „Books On Demand“ (BoD) realisiert worden. Jenem Verlag also, der erst durch Internet und Digitalisierung entstanden ist. Nur so konnten die Texte ihre ursprüngliche, provisorische, zum Teil auch bewusst oder unbewusst fehlerhafte und unmittelbare Form behalten, die eben genau das ausmacht, was Netzliteratur im besten Sinne sein kann.

Mein persönlicher Popliteraturgott stolpert frühmorgens aus einer Bar. Er wankt gefährlich, und einen Augenblick lang fürchte ich, er könnte vor ein Auto laufen oder stürzen und sich verletzen. Doch als ich – selbst unsicher auf den Beinen – den Kopf in die kalte Hamburger Nacht strecke und ihm nachsehe, ist er schon ein ganzes Stück weiter, schwankend, mit einer Hand in sein Mobiltelefon tippend. Ein Gesamtkunstwerk, ein feiner Mensch, denke ich. Und: Etwas ist zu Ende und nichts fängt an. Ein gutes Gefühl.

Ja genau.
Das ist das Schreiben ins Verschwinden.
Sozusagen schon die Zeile im Grab der Zeit.
Nur noch zu lesen, wenn schnell in die noch offene Erde
geschaut wird.

Das ist nie und nimmer ein Buch.
Das ist wie ein flüchtiger Tanz zwar zum Bild werden kann,
aber ein Bild niemals zum flüchtenden Tanz.

Was geschieht dann im Intermedium?
Danach grabe ich, verzweifelt mit aufgerissenen Fingerkuppen
dahingaloppierenden Cookies, ohne Unterlass.
Herzblut. Das Blut der Madonna.
Heiligenblut.
Plötzlich rinnt es über meine Lippen.

Morgen reiten die Clubs darüber.

(Alinia, imloop)

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