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2008.07.13 | 5:20 pm | Ich >< Welt PERMALINK  |  TRACKBACK
We wish for electric storms and love

Ein deutscher Sommer. Stahl und Öl und das Flirren der Hitze über den Schienen. Metallsommer. Gegenüber im Zug zwei Polizisten und eine weißgewandete Frau mit einem großen Plastikbeutel voller Kirschen. Vor dem Fenster setzt sich langsam der Tchibo-Stand in Bewegung und statt der absurd anachronistischen Glocke der Bahnhofshalle stülpt sich plötzlich wieder die große Bläue des Himmels über alles. Es ist kühl im Abteil und riecht nach Kuchenteig. Aus der Klappe des kleinen Mülleimers unter dem Fenster ragt ein breiter roter Trinkhalm heraus, wie die Zunge, die er nicht hat. Draußen löst sich die Stadt langsam auf, zergliedert sich in urbane Randgebiete, zerfasert in Industrie, Reihensiedlungen und Schrebergärten. Zersetzungserscheinungen. Auf den Dächern der Vorstädte drehen sich glitzernd die Verteilerhauben der Abluftrohre, die vergitterten Fenster der Betriebsgebäude weinen Rost. Vom Dreck ihrer Geschichte wird sie jedoch kein Gewitter reinwaschen können. Ich wünschte, ich könnte mehr sagen als die, die vor mir waren. Man ist immer befangen, wenn man beim Schreiben an jemand anderes denkt als sich selbst oder die Welt. Niemand weiß, dass ich kommen werde. Die Ansagen der Computerstimme sind nicht richtig getaktet, der Schaffner reicht zu jedem Halt die richtigen Stationsnamen nach. Abschalten geht wohl nicht. Die Polizisten schlafen, symmetrisch einander gegenüber, wie ein Gemälde von Magritte. Die Frau mit den Kirschen ist ausgestiegen. Vor dem Fenster plötzlich nur noch Wald, Nadelhölzer, skandinavisch. Immer wieder verlassene Bahnhöfe, an denen niemand zusteigt. Große graue Landschaften der Hoffnung, in denen lange Güterzüge schlummern, auf den Containern arabische Schrift. Auf allen Backsteingebäuden kleine Türme und Zinnen. Wälder mit Sandböden, über die sich glänzende Rohre schlängeln, eingezäunte Truppenübungsplätze, eine S-Bahn, ein ICE, wenige Sekunden hintereinander auf dem gleichen Gleis. Dann verschwindet die Sonne und ich glaube, zwischen den Baumstämmen und Gräsern einen umgestürzten Grenzpfosten gesehen zu haben. Die Polizisten sacken synchron immer weiter in sich zusammen. Alles ist erleuchtet. Dann wieder ein neuer, heller Zaun, Eichen vor dem Fenster, Laub, das Schatten auf die Uniformierten wirft. Auf dem Nachrichtenscreen: „Amokfahrt mit Bulldozer. Ein Palästinenser tötet drei Israelis, bevor er selbst von einem Israeli erschossen wird.“ Ich bin voller Angst und Hoffnung. Wie wir zueinander sprechen können, soll weiterhin das schönste Geheimnis bleiben. In Erkner sind die Fenster zugenagelt und alle Menschen, die aussteigen, tragen blassbunte Hemden und Plastiktüten von Galeria Kaufhof. Wie der Engel der Geschichte sitze ich rückwärts zur Fahrtrichtung. Auch wenn dieser wahrscheinlich nicht den Regionalexpress nahm. Durch den Forst ziehen sich lange Schneisen für die Autobahn oder gegen das Feuer. Ich bin voller Angst und voller Hoffnung. Die Lichtmuster auf den Waldböden und die verschwimmenden Stämme der Birken. Neue Bahnsteige vor alten, verfallenen Wärterhäuschen. Man könnte denken, ich müsste nicht immer wieder auf das Handy schauen, da es ohnehin keinen Empfang hat, hier draußen, in den Wäldern – doch vielmehr ist es so, dass bloß niemand anruft. Immer wieder schwedische Landschaften, dann polnische, dann wieder deutsche. Waldstücke, Rangiergleise, Bahnhöfe. Die Nachmittage, die wir an den Seen verbracht haben, träge und glücklich. Ein zugestiegenes Mädchen mit Pagenkopf sagt: „Puh, bloß nach Hause.“ Nach Hause. Dann fahren wir durch Finsterwalde (Spree). Die Mädchen sprechen über Gurkenschäler. Manchmal sehne ich mich danach, zu vergessen. Noch 181 Tage bis zum Ende des Jahres. Alles was lebt, bewegt sich. Ich habe Angst, deine Nummer zu wählen. Die Landschaften werden weit. Eines der Mädchen ruft zuhause an, lässt sich ihren Bruder geben und fragt, ob er ihr zum Bahnhof entgegen kommen könne, ihr sei so langweilig. Mit bittender Stimme verlässt sie das Abteil. Hier sind vor 63 Jahren die Panzer durchgerollt, breite Schneisen in den goldenen Feldern hinterlassend. Am Horizont dann eine Gruppe Windräder, kurz vor dem Ziel. Hinter dem Fluss beginnt ein anderes Land.

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