Khun Anong und Patricia nehmen mich mit zum Essen, ins Mali, am Pitak Court, wo auch schon das schwedische Koenigspaar mehrfach zu Gast war, wie Photos an der Wand belegen. Ich ueberrede die beiden, den morgigen Tag am Pool der deutsch-thailaendischen Gesellschaft zu verbringen, anstatt ins Fitnessstudio zu gehen, wie sie es eigentlich vorhatten. Ohne Nachspeise besuchen wir Joy, deren Atelier sich ganz in der Naehe befindet. Wir setzen uns auf den Boden, hinter uns stapeln sich Rahmen und Zeug, und Khun Anong erzaehlt ganz beilaeufig, dass ein paar Tage zuvor Joys Wohnung abgebrannt ist, und mit ihr diverse Bilder. Der Vermieter sei zwar versichert, wolle aber den Schaden nicht melden, da er sonst hoehere Beitraege zahlen muesse. Joy macht derweil Kaffee und Tee und geht Milch holen, im 7/11, und lacht und raucht und dann sitzen wir da und Khun Anong und Joy unterhalten sich auf Thai, Patricia und ich auf Englisch und ich verstehe zunaechst ueberhaupt nicht, was Patricia meint, als sie ploetzlich sagt, wir sollten jetzt vielleicht besser gehen. Ich schaue herueber und sehe, wie Khun Anong Joy umarmt und verstehe immer noch nicht, erst als ich sie schluchzen hoere und zittern sehe wird mir bewusst, dass der Kaffee und der Tee und das Lachen und alles andere vielleicht ein wenig zuviel waren fuer jemanden, dessen Bilder gerade verbrannt sind, mitsamt der Wohnung. Und frage mich, warum sich das Offensichtliche manchmal so in sich selbst versteckt. Warum das alles so ist.
Weitere Worte ueberfluessig.
Je niedriger die theoretische Wahrscheinlichkeit ist, dass Unliebsames eintritt, desto höher ist die praktische Wahrscheinlichkeit, dass es tatsächlich passiert. Das Gleiche gilt reziprok für Wünschenswertes.
[…] Ich bin immer wieder erstaunt und wundere mich, noch die Kraft zu haben, irgendetwas zu wünschen, denn im Prinzip ist man als vernünftiger Mensch überzeugt, dass alles Unsinn ist. […]
Max Beckmann – Tagebücher (17.11.1946)
In der Hauptstadt, über den heimlichen Bunkeranlagen, geschieht Merkwürdiges, obwohl ein jeder es Normalität zu nennen wagt. Es ist Zeit und Menschen und Strukturen und Biologie. Diskurse (sic!), die gegeneinander laufen. Oder mit den Dingen. In dem kleinen Kino hinter der Karl-Marx-Allee rennen Kinder durch die Räume, schreien und spielen Fangen, auch im Vorführraum, als der Film bereits begonnen hat. Mütter in bunter Kleidung lächeln verständnisvoll, dicke Männer in Lederjacken holen beständig neues Bier. Im kleinen Raum der Herrentoilette, in einer Ecke oben an der Wand, sieht man einen winzigen Durchbruch, auf der anderen Seite klimpert ein Vorhang aus einzelnen Plastikperlen, durchscheinend und bunt. Was ist das für ein Raum? Auf der Leinwand Gespenster, aus ihrer eigenen Vergangenheit, der ihrer Rollen und der meinigen. Eine Buchhandlung, ein Café, ein Spaziergang, eine Bootsfahrt. Geschichten, die erzählt werden. Von den Soldaten, die im 2. Weltkrieg beim Abzug der Wehrmacht in der Stadt zurückgelassen wurden, mit dem Befehl, Notre-Dame, den Eiffelturm und all das Andere in die Luft zu jagen. Von den verlassenen Sprengvorrichtungen, die die Amerikaner vorfanden. Von der Musik und dem Lächeln, von all dem, was dazwischen liegt und doch nur in meinem Kopf sein darf. Vom Tee, vom Singen und den Tränen. Vom Ende des Tages. Und von der Liebe.
Ein Nachmittag im August, in der Kammer meines Herzens. Die Sonne spielt Glissando, doch manche Stellen erreicht sie nicht, auch wenn man sie ihr schutzlos ausliefert. Ein Augenblick, ein ständiges Gefühl. Es gibt nichts, was das Ich tun kann; was es nicht tut, ist nicht ausreichend. Das Richtige blüht in Falschheit auf. Eben auf der Straße am Supermarkt ein Unfall, kurz bevor ich um die Ecke biege. Eine alte Frau sitzt am Straßenrand, schaut blicklos vor sich, von Helfern umringt. Polizei ist schon da; als ich an der Ampel stehe, kommt der Krankenwagen. Die Bewegungen wirken vertraut, die Szene bekannt und surreal. Es ist nichts Schlimmes, nur der Schock. Alle Autodächer wabern in Hitze. Eine hilflose Armbewegung nach oben, fahrig im Nichts endend. Wonach wollen wir greifen? Ich möchte finden und gefunden werden. Wie wir alle. Möchte aufhören damit, durch bloßes Sein Schmerzen zu verursachen. Zu quälen, ohne es zu wollen. Möchte gut sein. Wiederholt gesagt: Die Möglichkeiten sind begrenzt. Dieser Sommer ist ein ungerechter.
[...] So also sehen wir aus. Von außen. So sehen uns sonst nur die anderen. Und doch sehe ich mich so nur selbst. Das nimmt mir keiner ab. Und doch ist von zweien, scheint es, einer zu viel. Überläufer? Aber wer zu wem? Wer sieht denn da wem in die Augen? Augen? Löcher in der eisig glänzenden Fläche und doch undurchlässig, "Seelenfensterlein" nur zum Schein, ohne Tiefe, ohne Dahinter, fremd und ausdruckslos, denn der, der durch sie hindurch sieht und sich von sich gesehen sieht und weiß, steht davor. Wer je vor Spiegeln geweint hat, weiß Bescheid. Was läuft da eigentlich unsichtbar ab, im mondig geliehenen Lichtreflex, zwischen mir und mir? [...]
Christiaan L. Hart Nibbrig - Spiegelschrift
Von den Dachtraufen hängen Sperber, kopfüber, aus den Schnäbeln tropft Geronnenes. Dieser Ort widersetzt sich jeder Beschreibung. Die verzweifelten Versuche, sich den süßlichen Geruch des eigenen Todes von den Kleidern zu klopfen, lässt zwar trockenes Mitleid aus Poren quellen, doch es überwiegt die traurige Abscheu vor der Sinnlosigkeit aller Unterfangen. Wir wissen es nicht besser, wir können nicht anders, die Voraussetzungen sind denkbar schlecht. Ein jeder kriecht dem Teppich nach, der unter seinen Füßen weggezogen wurde. Die dominierende Farbe, außen und innen, ist grau, die Formen der Ersatzhandlungen sind vielfältig. Unverständnis mündet in Sprachlosigkeit, die schon kurz vor dem Ende der Floskeln beginnt.
[...] Skeptiker wie Nietzsche haben nachdrücklich erklärt, dass Metaphysik und Theologie durchsichtige Versuche sind, den Altruismus vernünftiger erscheinen zu lassen, als er ist. Aber es ist typisch für solche Skeptiker, dass sie ihre eigenen Theorien über die Natur der Menschen haben. Auch sie behaupten, es gebe etwas allen Menschen Gemeinsames - etwa den Willen zur Macht oder libidinöse Kräfte. Der springende Punkt ist für sie, dass es auf dem "tiefsten Grund" des Selbst keinen Sinn für Solidarität gibt, dass dieser Sinn "bloß" ein Artefakt der Sozialisation der Menschen ist. Also werden solche Skeptiker antisozial. Allein schon die Vorstellung von einer Gemeinschaft, die größer wäre als ein kleinster Kreis Eingeweihter, bringt diese Skeptiker dazu, ihr den Rücken zu kehren. [...]
Richard Rorty - Kontingenz, Ironie und Solidarität